EDITORIAL
Christa Gebhardt & Dr. Jürgen Hansel
Chefredaktion
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LILIALES
EDITORIAL
SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Liebe Leserinnen und Leser,
es kommt nicht oft vor, dass wir den Titel einer SPEKTRUM-
Ausgabe erklären müssen. Bei den Lilien jedoch gehen in der
Homöopathie wie in der Botanik die Begriffe durcheinander. Lili-
anae, Liliidae, Liliiflorae, Liliales, Liliaceae – wer soll sich da noch
auskennen. Dazu kommt, dass die Ordnung der Lilienartigen
in der modernen, von Jan Scholten verwendeten APG-Klassifi-
kation weniger Pflanzenfamilien umfasst als in der klassischen
Taxonomie nach Cronquist. Letztere wird von Sankaran und
Yakir bevorzugt und bündelt auch den bunten Strauß von Arz-
neien, den unsere Autoren zusammengestellt haben. Zunächst
bringt jedoch Jörg Wichmann mit seinem Beitrag Klarheit in das
Chaos der Ordnungen, auf das unser Untertitel „Probleme mit
der Gruppe“ verweist.
Dieser Untertitel steht gleichzeitig für das zentrale Thema der
Lilienartigen, das sich gut aus Scholtens Pflanzencode 633.6 für
die Liliales ableiten lässt. Die Ziffern 633 für die Serien verweisen
dabei auf die 3. Reihe des Periodensystems, die Silicaserie, mit
ihrem Schwerpunkt im Bereich Beziehungen, Familie, Grup-
pen. Dazu kommt die Phase 6 mit dem Gefühl, am Rande der
Gruppe zu stehen und nicht wirklich dazuzugehören. Dieses
Grundgefühl der Liliales grenzt Sally Williams in ihrer Differen-
zialdiagnose zu den Orchidales (633.7) vom asozialen Outcast
der Phase 7 ab. Auf der anderen Seite stellt Deborah Collins die
Besonderheiten der Phase 5 an einem Fallbeispiel zu Crocus sa-
tivus dar, der nach Cronquist zu den Liliales, nach APG/Scholten
aber zur Ordnung der Asparagales (633.5) gehört. Zusammen
mit den Familiengeschichten von Vladimir Petroci bieten diese
Beiträge ein anschauliches Bild von der praktischen Arbeit mit
Jan Scholtens Pflanzentheorie.
Über die gemeinsame körperliche Vitalempfindung der Lilien-
mittel, „von innen nach außen gepresst zu werden“, kommt
Rajan Sankaran zum gleichen Grundgefühl des Ausgeschlos-
senseins wie Jan Scholten über die Pflanzentheorie. Wie sich
diese Empfindung in einer Patientin gleichzeitig auf der körper-
lichen und seelischen Ebene plastisch ausdrücken und sicher zur
Arzneifamilie führen kann, zeigt die Kasuistik von Susan Sonz.
Das sykotische Miasma bestimmt in diesem Fall die Wahl von
Lilium tigrinum, bestätigt durch das Repertorium. Beispiele zum
Malariamiasma und Krebsmiasma der Lililiales im Rahmen der
Empfindungsmethode präsentiert Mahesh Gandhi.
Michal Yakir stellt die Lilienartigen und ihre Probleme mit der
Gruppe in den Kontext der Pflanzenevolution. Als Monokoty-
ledonen sind sie selbstbezogen, die Position in Spalte 5 und 6
von Yakirs Pflanzentabelle steht für die Beziehungs-Probleme
eines starken Egos. Annette Sneevliet gebraucht für die Spalte
6 das Bild vom unverstandenen König, der sich ausgeschlossen
fühlt. In der Materia Medica kennen wir das aufgeblähte Ego
vor allem von Veratrum album. Bei Kindern zeigt sich das nach
der Erfahrung von Markus Kuntosch in ausgeprägter Selbstüber-
schätzung, Frühreife, Ungehorsam und Hyperaktivität.
An den zahlreichen Fallbeispielen dieses Ausgabe wird deutlich,
wie sich die unterschiedlichen Perspektiven von Scholten, San-
karan und Yakir auf eine botanische Ordnung ergänzen und das
homöopathische Verständnis vertiefen können. Resie Moonen
kombiniert deshalb wie viele Kollegen in ihrer Praxis die un-
terschiedlichen Ansätze, Konzepte und Tabellen, um zunächst
die passende Pflanzenfamilie und dann die Simile-Arznei zu
bestimmen. Dabei spielt wie bei den anderen Autoren auch das
Repertorium und das bekannte Arzneimittelbild eine wichtige
Rolle. Ein eigener kleiner Strauß aus Convallaria, Crocus, Iris
und Lilium tigrinum illustriert dieses pragmatische Vorgehen.
Ein besonderer Aspekt der Liliales ist ihre Organotropie, die
bereits auf das Thema der nächsten Ausgabe von SPEKTRUM
verweist. Neben psychischen Störungen bilden nämlich die weib-
lichen Hormone und Fortpflanzungsorgane einen Schwerpunkt
in den Pathologien unserer Fallbeispiele. Jürgen Weiland hat eine
stattliche Sammlung von Lilien-Arzneien mit diesem organotro-
pen Bezug zusammengestellt und deren Differenzialdiagnose
herausgearbeitet. Jedes Mittel hat dabei sein eigenes Wirkungs-
spektrum, das oft schon in alten Quellen beschrieben ist. So
fand Anne Schadde bei Clarke den Hinweis, Aletris farinosa
passe am besten für chlorotische Mädchen und schwangere
Frauen, schwache und ausgezehrte Personen. Diese überlieferte
klinische Erfahrung in Verbindung mit dem Grundgefühl, außen
vor zu sein, führte sie bei drei Patientinnen zur richtigen Arznei.
In diesen und vielen anderen Fällen war der geschickte Umgang
mit traditionellen und modernen Erkenntnissen und Methoden
der Schlüssel zum homöopathischen Erfolg. Wir wünschen Ih-
nen, dass auch Sie nach der Lektüre dieses Heftes die Lilien-
artigen unter Ihren Patienten besser erkennen und erfolgreich
behandeln können.