SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Jürgen Hansel ¦
DIVERSE MITTEL
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PALLIATIV
kann in meinem Beruf jede seelische Not und Qual begleiten,
aber mit kleinsten körperlichen Verletzungen konnte ich schon
bei meinen Kindern nicht umgehen. Eine offene körperliche
Wunde trifft mich seelisch.“ „Das schlimmste an der Krankheit
war bisher die Pleuradrainage. Es war wie eine Pfählung – als
ob der Körper von innen gespreizt und auseinandergetrieben
wird – als ob die Drainage von einer Seite zur anderen ganz
durch mich hindurchgeht.”
Derzeit klagt sie über folgende Beschwerden: „Ich bin sehr
schwach und kann keine Leistung mehr bringen. Nach einer
Viertelstunde Aktivität muss ich mich wieder hinlegen. Die
Schwäche geht vom Magen aus, wie wenn dort ein Hohlraum
entsteht, dann geht die ganze Energie weg.“ Sie hat Schmer-
zen im Brustkorb und in der rechten Schulter, die durch Wind
verstärkt werden. Außerdem klagt sie über Schmerzen im rech-
ten Oberschenkel im Bereich der Knochenmetastase, schlechter
beim Gehen. Alle Beschwerden konzentrieren sich auf die rechte
Seite und sind morgens schlimmer.
FALLANALYSE
Im Sinne der oben zitierten WHO-Definition aus dem Jahr 1990
handelt sich um einen klassischen Fall für die Palliativ-Medizin:
Eine progrediente, weit fortgeschrittene Erkrankung mit be-
grenzter Lebenserwartung und ohne die Möglichkeit einer kura-
tiven Behandlung. Für die Homöopathie bedeutet das allerdings
nicht zwangsläufig, dass jetzt nur noch palliativ, symptomlin-
dernd und lokal behandelt wird. Auch in dieser Situation hat
eine Mittelwahl nach ganzheitlichen Kriterien auf der Basis der
auffallenden, ungewöhnlichen, charakteristischen Symptome
zunächst Vorrang.
Als erstes fällt der Umgang der Patientin mit ihrer Krankheit auf:
„Ich habe es ignoriert.“ Sie tut so, als sei sie gesund, obwohl sie
schwer krank ist. Ein Grund dafür ist ihre Aversion gegen Ärzte.
Und dahinter steht eine tief sitzende Furcht vor Verletzungen,
die sich durch ihr Leben zieht und durch die Krankheit schmerz-
haft aktualisiert wird. „Mit kleinsten körperlichen Verletzungen
konnte ich schon bei meinen Kindern nicht umgehen. Eine offene
körperliche Wunde trifft mich seelisch.“ Da es sich bei der Pati-
entin keineswegs um eine furchtsame, sondern um eine starke,
selbstbewusste Persönlichkeit handelt, ist die Verletzungsangst als
Grundgefühl umso auffälliger. Mit dieser ausgeprägten Sensibilität
gegen kleinste Kratzer durchlebt sie diverse schwere Eingriffe,
REPERTORISATION
von denen die Pleuradrainage subjektiv das größte Trauma dar-
stellt – ein Schock in der Sprache des Repertoriums. Besonders
eigenheitlich ist dabei die Empfindung der Pfählung.
Die Repertorisation ihrer Empfindungen und des damit verbun-
denen Reaktionsmusters führt uns zu dem Verletzungsmittel par
excellence: Arnica montana. Einbezogen ist dabei noch der Ab-
bruch der Chemotherapie nach dem ersten Stoß mit der Rubrik
„überempfindlich gegen allopathische Medikamente“. Phatak
schreibt zu Arnica: „Traumata in allen Variationen, psychisch
oder physisch, sowie deren unmittelbare oder entfernte Folgen
sind mit dieser Arznei zu behandeln.“ Bei der Arzneimittelwahl
wurden die lokalen Schmerzsymptome ebenfalls als Trauma-
Folgen erachtet, in ihrer unspezifischen Ausprägung jedoch
nicht weiter berücksichtigt. Auffällig ist bei den Lokalsymptomen
allenfalls die Verschlechterung durch Wind.
VERLAUF
2. August:
Verordnung von Arnica Q 1, täglich 3 Tropfen. Im
Rahmen einer Erstverschlimmerung sind die Schmerzen im gan-
zen Brustkorb und im Oberschenkel stärker und die Patientin
ist sehr unruhig. Nach 3 Tagen ist alles wesentlich besser als
vor Beginn der Einnahme, sie ist viel stabiler, hat deutlich mehr
Energie und kaum noch Schmerzen.
10. August:
Wieder mehr Schmerzen im Bein und in der Brust.
12. August:
Energie lässt etwas nach.
2. September:
Über 4 Tage heftige Schmerzen und Erbrechen.
Kommentar:
Nachdem das Mittel bisher gut auf die Lebens-
kraft und die Schmerzen gewirkt hat, wird jetzt bei Nachlassen
der Wirkung die Potenz gewechselt:
Verordnung von Arnica
Q 3, täglich 3 Tropfen
6. September:
Kein Erbrechen mehr, die Schmerzen sind deut-
lich geringer
10. September:
Heftiger Pleuraschmerz und Atemnot, die Pati-
entin ist nach geringer Anstrengung erschöpft und schläft viel.
Kommentar:
Der Wechsel der Potenz hat nur eine kurzzeitige
Besserung erbracht, dann sind die Schmerzen, jetzt verbunden
mit Atemnot, zurückgekehrt. Besonders gravierend ist jedoch
der Einbruch der Energie. Offensichtlich lässt die positive Wir-
kung von Arnika auf die Lebenskraft nach. Statt einer neuen
Potenz ist also eine neue Arznei angezeigt. Wegen der guten
Wirkung von Arnica suche ich ein verwandtes Mittel aus der
gleichen Arzneifamilie, das einen stärkeren Bezug zur Krebser-