Jonathan Hardy
¦ Lac humanum: Lac lupinum
SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
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SUCHT ¦
ESSEN | HEROIN
Einfahrt, aber ich muss noch mal reingehen, um mir etwas zu essen
zu holen. Ich weiß, dass ich spät dran bin, aber da ist die ganze Zeit
der Zwang, reinzugehen und mir etwas zu essen zu schnappen,
bevor ich losfahre und die Kinder abhole, und ich denke: „Du
solltest das nicht tun, es sollte umgekehrt sein! Ich sollte losfahren
und die Kinder abholen und nicht ständig ans Essen denken!“
Und wenn ich etwas aufmache (…) Ich kann einfach kein Päck-
chen Kekse aufmachen und nur ein paar davon essen – nein,
ich esse nicht alle, aber die Hälfte verputze ich mit Leichtigkeit,
einfach weil sie da sind und ich sie nicht ignorieren kann. Das
ist es nämlich, wenn es ums Essen geht: Ich kann es nicht ig-
norieren, wenn es da ist. Das ist ein bisschen zwanghaft, aber
ich muss es halt essen. Ich wünschte, ich wäre wie manche
Leute, die essen, um zu leben, und das war’s, sie interessieren
sich nicht besonders fürs Essen. Ich habe mir immer gewünscht,
ich wäre ein bisschen so, aber ich bin’s nicht!
Was haben Sie sonst noch für Beschwerden?
Meine Pickel! Als Teenager hatte ich, glaube ich, nicht viele, aber
jetzt bin ich 40 und habe immer noch damit zu kämpfen. Ich
war bei meiner Ärztin, die möchte bestimmt nicht daran erinnert
werden wie oft, und die sagt immer: „Das ist nichts weiter! Das
ist nichts!” Aber es ist nicht nichts! Ich habe das jetzt schon seit
20 Jahren, und es nervt mich immer noch!
Erzählen Sie mehr darüber, wie Sie das belastet.
Es macht mich fertig. Meine Haut wird nur mit oralen Antibiotika
sauber, aber die kann man ja nicht dauernd nehmen.
Erzählen Sie noch mehr über diese Belastung.
Es stört mich wirklich. Ich würde früh am liebsten gar nicht
aufstehen. Es hat einen Einfluss darauf, wie man etwas … es
hat einen Einfluss darauf, wie man sich fühlt.
Und wie fühlen Sie sich?
Ich fühle mich unordentlich. Mir fällt kein besseres Wort ein.
Ja, ich fühle mich nicht ordentlich.
Beschreiben Sie dieses Gefühl.
Ich fühle mich nicht so gepflegt, wie ich möchte. Ich bin ent-
täuscht.
Beschreiben Sie „nicht gepflegt“.
Es ist etwas Schlampiges. Es ist einfach, wissen Sie … Na ja, Sie
stehen auf, Sie ziehen sich an, um auszugehen oder zur Arbeit
zu gehen, und Sie fühlen sich nie so richtig wohl. Sie haben
Schwächen, die Sie zu verbergen suchen, aber Sie fühlen sich
dabei noch schlechter. Aber Sie haben das Gefühl, Sie müssten
etwas tun, Sie sind nicht hundertprozentig zufrieden mit dem,
was Sie tun oder wie Sie aussehen. Unordentlich ist das einzige
Wort, das mir dazu einfällt.
Erzählen Sie mir bitte von Ihrer Kindheit.
Meine Eltern (…) Meine Mutter hat mich schon mit 18 gekriegt,
und mein Vater war 20, sie waren also noch sehr jung. Das
Einzige, was ich an meiner Mutter nicht ausstehen konnte und
immer noch nicht kann, ist, dass sie so unordentlich ist. Daran
erinnere ich mich deutlicher als an alles andere. Ich habe nie
Freundinnen mit nach Hause gebracht, weil es mir so peinlich
war, dass sie so unordentlich ist. So verbrachte ich dann viel
weniger Zeit mit Freunden. Mit meinem Vater habe ich mich
immer gut verstanden. Mein Vater war ein typischer Papa –
weich – er war es, der aufsprang, wenn man etwas brauchte.
Meine Mutter war launischer. Meine Eltern haben sich getrennt,
und alles war zwei oder drei Jahre lang sehr unschön.
Wie war das?
Es war sehr schwer, weil ich (…) Ich glaube, ich habe meiner
Mutter die ganze Schuld gegeben, und so ist unsere Beziehung
kaputt gegangen, richtig schlimm. Alles endete immer damit,
dass wir uns gegenseitig anbrüllten, bis sie mich ein paarmal
rausschmiss und ich bei Freunden unterkroch. Meine Mutter
hat trotzdem eine Menge Probleme, wissen Sie, sie hatte immer
Probleme, und das hat alles schwer gemacht. So sehe ich das –
ziemlich schwer. Deshalb konnte ich meinen Vater verstehen. Ich
dachte, mit ihr kann es ja niemand aushalten. Es ist schwer, es
mit ihr auszuhalten. Ich würde nicht behaupten, dass wir eine
normale Mutter-Tochter-Beziehung hatten.
Wie war das?
Ich würde sie ja anrufen, aber wenn man sie anruft, nagelt sie
einen über eine Stunde lang am Telefon fest. Das ist auch manch-
mal schwierig, denn man ruft meine Mutter nicht an, um sich mit
ihr zu unterhalten, sondern man ruft sie an, um ihr zuzuhören!
Wissen Sie, wir verbringen wenig Zeit miteinander (…) na gut,
eigentlich verbringen wir überhaupt keine Zeit miteinander, wenn
ich ehrlich bin. Ok, meine Mutter ist meine Mutter, aber sie ist ein
harter Brocken. Wie ich es sehe, sind die Rollen bei uns im Grunde
vertauscht. Es ist, als bräuchte sie mich, anstatt dass ich sie brau-
chen würde. Meine Mutter hatte viele depressive Phasen, und
depressiv heißt, dass sie nicht aus dem Bett kam, sodass wir uns
furchtbar viel um die Kinder kümmern mussten, und ich schätze,
das ist der Grund, weshalb mir meine Eltern nicht so nahestehen.
(Anmerkung der Redaktion: vermutlich Geschwisterkinder, wurde
vom Autor nicht nachgefragt.)
Weil meine Mutter – ob sie nun
krank war oder nicht, als Kind sieht man das ja nicht so. Man sieht
nur: „Mama liegt wieder im Bett“, und mein Vater war nicht da.
Erzählen Sie mehr darüber.
Das Schlimmste war, nach Hause zu kommen und nicht zu
wissen, was einen dort erwartet. Ich konnte es einfach nicht
verstehen. Offensichtlich war ich noch zu jung, um es zu ver-
stehen. Ich konnte nicht verstehen, wieso sie es zuließ, dass
mein Vater nach einem ganzen Tag Arbeit nach Hause kam
und dann noch das Abendessen kochen musste. Ich konnte so
etwas einfach nicht verstehen. Und ich hasste sie. Ich hasste sie
richtig sehr. Sie landete zwei- oder dreimal in der Psychiatrie,
und ich war erleichtert.
Wie fühlte sich das damals für Sie an?
Es war furchtbar.
Beschreiben Sie das näher.
Es war einfach schrecklich, nie zu wissen, was los ist. Ich fühlte
mich nie wohl. Es war schrecklich, von (…) Wissen Sie, wir
hatten ein schönes Haus, aber nicht all diese Dinge. Das war
schrecklich. Nicht aus materiellen Gründen, sondern wegen der
Behaglichkeit. Der Geborgenheit. Es war einfach schrecklich.