SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Andreas Richter
¦ Cicuta virosa
8
NEUROLOGISCHE KRANKHEITEN
ebenso eine Rolle wie das erfahrungsabhängige Verknüpfungs-
muster des Nervensystems. Ist die Mutter unter Stress, werden
besonders die Überlebensbahnen betont.
FALLBEISPIEL 2: Malin, 14 Monate alt, Anfallsleiden
Die kleine Malin sank aus dem Spielen heraus plötzlich in sich
zusammen. Sie war nicht mehr ansprechbar und kaltschweißig.
Sie starrte vor sich hin, Arme und Beine waren angespannt,
zuckten aber nicht. Nach einigen Minuten kam sie wieder zu
sich, erbrach und schlief dann tief. Bisher gab es fünfmal solche
Episoden für einige Minuten, immer wurde die Kleine steif, war
nicht mehr ansprechbar, erbrach gelegentlich danach und schlief
dann fest. Zum ersten Mal ereignete sich dieser Anfall mit sieben
Monaten direkt am Abend der ersten Impfung. Dabei hatte sie
Fieber. Am Tag zuvor hatte sie zum ersten Mal selbst gesessen
und sich auf dem Boden abgestützt. Das nächste Mal trat der
Anfall ohne Fieber auf mit acht Monaten, als sie begonnen hatte
zu krabbeln. Einen Monat später wiederholte sich der Zustand,
als sie zahnte. Ein weiteres Mal geschah es, als sie sich mit zwölf
Monaten selbst hochzog und aufrichtete. Der Anfall kam erneut,
als sie sich mit 14 Monaten zum ersten Mal ein Wochenende
mit dem Vater allein zu Hause befand, bisher hatte sie extrem
gefremdelt und hatte nur die Mutter akzeptiert. Das Fremdeln
hat sie schon seit den ersten Monaten und verlor es auch nie.
Das EEG war immer normal, Medikamente bekam sie keine.
Abschottung:
Beide Eltern hatten eine schwierige Kindheit,
beide wuchsen bei der Oma auf. Die Mutter kann sich ei-
gentlich erst an die Zeit nach ihrer Grundschule erinnern, der
Vater hatte in seiner Kindheit keine Freunde und fand erst
in der Schulzeit Kontakt mit Gleichaltrigen. Die Mutter litt
in ihrer Kindheit bis zur Pubertät unter Kopfschmerzen, die
vom Nacken aus in den Kopf zogen und migräneartig mit
Lichtempfindlichkeit und Erbrechen einhergingen. Der Vater
musste schon früh selbst Geld verdienen. Beide Familien ha-
ben einen Migrationshintergrund und fühlten sich oft fremd
in Deutschland. Die Mutter litt unter Schwangerschaftsdia-
betes. Sie war drei Wochen über dem Termin ohne Wehen
und in dieser Zeit erfüllt von Angst vor der Geburt, der Zu-
kunft, vor dem, was danach auf sie zukommen könnte, und
ob sie alldem gewachsen sei. Die Geburt wurde eingeleitet,
war extrem schmerzhaft, die Sturzgeburt beschreibt sie mit
einem Gefühl „wie eine Explosion“. Das Neugeborene wog
4,7 Kilo und ist heute noch übergewichtig.
Entwicklungsebenen:
Besonders für Kleinkinder ist eine Ab-
schottung, wie sie die Mutter in ihrer Kindheit erlebte, hinder-
lich für eine gesunde Entwicklung. Kinder benötigen ab dem
dritten Lebensjahr eine gleichaltrige Gruppe, um sich teilweise
von den Eltern lösen zu können. So entwickeln sie ihre Lern-
fähigkeit und eine gesunde Selbsteinschätzung. Emotionales
Lernen ist die zweite große Entwicklungsebene, ebenso wie
die dritte Entwicklungsebene der bewusst sozial vermittelten
Emotionen (d. h. ein Wahrnehmen des eigenen körperlichen
Zustandes und des der anderen, auch Empathie genannt). Diese
drei erwähnten Entwicklungsebenen bilden sich in den ersten
drei Lebensjahren. Abgrenzung führt dazu, dass sich Vertrauen
und Zuversicht in Bezug auf die eigene Zukunft schwach aus-
bilden. Vielleicht erklärt das, wie das weitere große Thema der
Apiaceae/Umbelliferen entsteht, das wir hier neben der Ent-
fremdung gegenüber den anderen vorfinden, und eben auch
die Angst vor dem Fortgang der Dinge.
Anfällige Entwicklungsschritte:
Immer wenn eine Erneue-
rung oder Veränderung ansteht, wie Impfungen, die auch das
Nervensystem betreffen, die erstmalige längere Abwesenheit
der Mutter oder auch weitere Entwicklungsschübe, bedeutet
das für Malin eine verletzliche Zeit: Sie reagiert in diesen Zei-
ten mit einem Anfallsäquivalent. Die Anfälle von Malin zeigen
nicht das extreme Bild, das bei Erwachsenen mit Epilepsien bei
diesem Mittel beschrieben ist, die sich in heftigsten Krämpfen
mit Verdrehungen (Opisthotonus) ausdrücken. Wegen des noch
sehr unreifen Nervensystems mit der noch nicht stattgefunde-
nen Isolierung der Nervenfasern in diesem frühen Alter sehen
wir mehr das schlaffe in-sich-Zusammensinken und die toni-
sche Anspannung der Extremitäten, oft ausgelöst, wie hier bei
Malin, durch Berührung. Steifheit ist ein zentrales Thema von
Cicuta, dazu passt auch hier der auftretende starre Blick. Diese
Art Anfälle ist bei Kindern unter drei Jahren bei diesem Mittel
beschrieben (siehe oben), ebenso wie plötzliche Anfälle ohne
Aura aus dem fröhlichen Spiel heraus.
CICUTA IN DEN FÜNF PHASEN DES
STRESSZYKLUS
Wahrnehmung (1):
Hier begegnen wir schon den Rückzugs-
tendenzen in der Berührungsempfindlichkeit: „Rühr mich
nicht an!“ Die Berührungsempfindlichkeit ist ausgeprägt,
bis zum Auslösen von Anfällen.
Handlung (2):
Das Handeln ist vorwiegend impulsiv. Hef-
tige Impulse, plötzliches Steifwerden, Hochfahren aus dem
Schlaf, Albträume, starker Schluckauf, plötzliche Anfälle aus
fröhlichem Spiel heraus.
Energiehaushalt oder die Energieblockade (3):
Wir
sehen hier hauptsächlich Steifheit: tonische Spannung der
Beine, Nackensteife, will und kann nicht mehr schlucken,
Atemaussetzer im Schlaf, satt nach dem ersten Bissen.
Erholungsphase (4):
Rückzugstendenzen werden eingeleitet.
Es ist ein „niemanden sehen Wollen!“, Sehstörungen, starrer
Blick, Schielen, Sehen macht schläfrig, lichtempfindlich.
Wiederherstellung (5):
Eine Wiederherstellung des Ener-
giehaushalts geht bei diesem Mittel über „Menschen-
scheue“. Die Abschottung wird dann komplett, und wir
sehen Abneigung gegen Anwesenheit von Fremden, ein
Alleinsein-Wollen, Tiefschlaf nach Anfällen, krustiges Ekzem
als Schutzschicht.