SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Andreas Richter
¦ Cicuta virosa
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NEUROLOGISCHE KRANKHEITEN
Apiaceae:
Die Familie der Umbelliferen (Apiaceae) ist in der
Entwicklung der Pflanzen weit fortgeschritten. Sie enthält viele
Kräuter, die einerseits in der Nahrung oder beim Würzen genutzt
werden, andererseits aber auch solche, die eine hohe Giftigkeit
aufweisen. Leitet man die Mittelbilder überwiegend aus den
tödlichen Vergiftungssymptomen und der Signatur her, erschei-
nen sie sehr extrem, erst die Prüfungssymptome und die Erfah-
rung mit den geheilten Fällen machen die Anwendung runder,
gefälliger und anwendbarer. Als Heilmittel passen diese hoch
entwickelten Pflanzen zu Menschen, die eine lange gereifte und
vielfältige Pathologie haben. Diese Krankheitsbilder sind also
eher bei Erwachsenen zu finden. Will man das Arzneiwissen für
die Anfänge des Lebens und dann auch für Klein- und Schulkin-
der nutzen, muss man Themen und Symptome in den Kontext
der ersten Lebensphasen mit ihrer beginnenden Regulationsfä-
higkeit stellen. Besonders für die erste Zeit der Entwicklung bis
zum zweiten Lebensjahr spielt der Einfluss der Großhirnrinde
und des kognitiven Systems kaum eine Rolle. Für diese Zeit muss
man die Mittelbilder an das unreife System anpassen.
Frühe und transgenerationale Prägung:
Wie der einzelne
Mensch der Welt begegnet, wird schon sehr früh in den Mo-
naten der Schwangerschaft und den ersten 18 Monaten des
Lebens festgelegt. Genetisch und epigenetisch vorgeprägt,
bildet sich das Verknüpfungsmuster des Nervensystems vom
Hirnstamm bis zum limbischen Systems aus: Wird es zu Anfang
überschießend gebildet, präzisiert es sich später gebrauchsab-
hängig. Dabei beeinflussen die Grundmuster, die von den vor-
hergehenden Generationen gelebt werden, die Verknüpfung
im Nervensystem des sich neu entwickelnden Lebens deutlich.
Die Wahrnehmung des körperlichen Eigenzustandes des Un-
und des Neugeborenen, der unmittelbar mit dem der Mutter
in Resonanz steht, legt schon früh das jeweilige Temperament
fest, ob ein Mensch angstvoll oder draufgängerisch, vorsichtig
oder wagemutig, stumm oder gesprächig wird (Spektrum der
Homöopathie 1/2020, S. 92 f). Für die Mittelfindung in den
Anfängen des Lebens muss der Behandelnde immer die Themen
aus der transgenerationalen Anamnese berücksichtigen.
FALLBEISPIEL 1: Jan, 4 Monate alt, Schlafstörungen
Jan, vier Monate alt, wird vorgestellt wegen extremer Schlafstö-
rungen. Er fährt alle halbe Stunde aus dem Schlaf hoch, er wirkt
erschrocken, schreit und lässt sich nicht beruhigen. Anschließend
schläft er für eine halbe oder ganze Stunde wieder ein. Manch-
mal ist er auch stundenlang nachts wach. Beim Hochnehmen
erschlafft er manchmal für einige Sekunden, einige Male hat
er danach gespuckt. In der Schwangerschaft war seine Mutter
zunehmend beunruhigt und fragte sich, ob sie das schaffen
könnte. Jedes weitere Wachstum des Kindes hat sie geängs-
tigt, unmittelbar vor der Geburt entwickelte sie Todesangst und
große Schreckhaftigkeit, eine Furcht, ihr Leben sei zu Ende.
Sie wollte niemanden mehr, auch die Hebammen nicht, außer
ihrem Mann bei sich sehen, ihn allerdings sehr nah und dicht.
Folgende Themen kristallisierten sich heraus.
Keinen neuen Schritt tun:
Wegen des Rückzugs aus der Ge-
sellschaft (zu distanziert von anderen und zu nah beim Ehe-
mann) und des Misstrauens (gegen die Hebamme), der großen
Angst vor Veränderung (Geburt) und der hohen Sinnesemp-
findlichkeit habe ich ihren Zustand nicht nur am Ende der
Schwangerschaft den Themen der Apiaceae zugeordnet. Denn
die Mutter berichtet, wie schwierig die Familienatmosphäre in
ihrer Kindheit gewesen sei. Ihre Eltern seien nach Deutschland
gekommen wegen der Arbeit, hätten sich zeitlebens nicht an
die hiesige Kultur gewöhnen können und hätten sich abge-
lehnt und unverstanden gefühlt. Bis zur Schulzeit habe sie sich
nur im Kreis der Familie bewegt. Einerseits finden wir hier das
Thema der Umbelliferen der „Entfremdung vom anderen“, wie
es Michal Yakir nennt. Und damit die Themen des Rückzugs, der
sich steigernden Angst vor der neuen Situation, der Furcht vor
Veränderung und des vergeblichen Versuchs, den Status quo
zu erhalten. In der Prüfung von Cicuta virosa wird beschrieben,
wie Objekte einmal als ganz nah und dann wieder weit weg
empfunden werden. Gleichzeitig vollzieht sich der Rückzug aus
der Gesellschaft. In einer entsprechenden gefühlsmäßigen Lage
lebte die Mutter vor der Geburt.
Totstellreflex:
An Jan war zu beobachten, wie er, wenn auch
nur kurz, schlaff wird, besonders nachdem man ihn hochnimmt.
(Möglicherweise auch eine Abneigung gegen Berührung?) Ich
APIACEAE IN DEN FÜNF PHASEN
DES STRESSZYKLUS
Lebensangst:
Zu den Themen im Stresszyklus der Apiaceae
(Umbelliferen), die wir bei der Anamnese der Eltern- und
Großelterngeneration finden, gehört sehr zentral Lebens-
angst oder eine Angst vor dem Tode sowie eine Angst vor
jeder Änderung des jetzigen Zustandes, man will einfach
nicht in neue Umstände eintreten.
Wahrnehmung (1):
Festzustellen ist eine hohe Lichtemp-
findlichkeit. Das bedeutet im übertragenen Sinne, dass es als
beunruhigend empfunden wird, sich auf neue Erfahrungen
und Erkenntnisse einzulassen.
Handlung (2):
Daraus ergibt sich ein Handeln mit dem Ziel,
sich abzuschotten; Angst, die Tür zu öffnen, sich zu entfrem-
den und sich zu verkrampfen bis zu Spasmen.
Energiehaushalt (3):
Aufgrund der unterdrückten Gefühle
neigt der Energiehaushalt zu Steifheit und Trockenheit. In
der weiteren Entwicklung verhindern fixe Ideen und Rigidität
die Erholung.
Erholung (4)
und
Wiederherstellung (5)
der Energiere-
gulation: Wegen der inneren Leere, der Lähmung und der
abgeschotteten Sicht auf die Umgebung funktioniert auch
die Wiederherstellung nicht (Siehe auch M. Yakir, Ordnung
der Pflanzen, S. 519 f).