Previous Page  8 / 13 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 8 / 13 Next Page
Page Background

SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE

Andreas Richter

 ¦ Cicuta virosa

6

NEUROLOGISCHE KRANKHEITEN

Apiaceae:

Die Familie der Umbelliferen (Apiaceae) ist in der

Entwicklung der Pflanzen weit fortgeschritten. Sie enthält viele

Kräuter, die einerseits in der Nahrung oder beim Würzen genutzt

werden, andererseits aber auch solche, die eine hohe Giftigkeit

aufweisen. Leitet man die Mittelbilder überwiegend aus den

tödlichen Vergiftungssymptomen und der Signatur her, erschei-

nen sie sehr extrem, erst die Prüfungssymptome und die Erfah-

rung mit den geheilten Fällen machen die Anwendung runder,

gefälliger und anwendbarer. Als Heilmittel passen diese hoch

entwickelten Pflanzen zu Menschen, die eine lange gereifte und

vielfältige Pathologie haben. Diese Krankheitsbilder sind also

eher bei Erwachsenen zu finden. Will man das Arzneiwissen für

die Anfänge des Lebens und dann auch für Klein- und Schulkin-

der nutzen, muss man Themen und Symptome in den Kontext

der ersten Lebensphasen mit ihrer beginnenden Regulationsfä-

higkeit stellen. Besonders für die erste Zeit der Entwicklung bis

zum zweiten Lebensjahr spielt der Einfluss der Großhirnrinde

und des kognitiven Systems kaum eine Rolle. Für diese Zeit muss

man die Mittelbilder an das unreife System anpassen.

Frühe und transgenerationale Prägung:

Wie der einzelne

Mensch der Welt begegnet, wird schon sehr früh in den Mo-

naten der Schwangerschaft und den ersten 18 Monaten des

Lebens festgelegt. Genetisch und epigenetisch vorgeprägt,

bildet sich das Verknüpfungsmuster des Nervensystems vom

Hirnstamm bis zum limbischen Systems aus: Wird es zu Anfang

überschießend gebildet, präzisiert es sich später gebrauchsab-

hängig. Dabei beeinflussen die Grundmuster, die von den vor-

hergehenden Generationen gelebt werden, die Verknüpfung

im Nervensystem des sich neu entwickelnden Lebens deutlich.

Die Wahrnehmung des körperlichen Eigenzustandes des Un-

und des Neugeborenen, der unmittelbar mit dem der Mutter

in Resonanz steht, legt schon früh das jeweilige Temperament

fest, ob ein Mensch angstvoll oder draufgängerisch, vorsichtig

oder wagemutig, stumm oder gesprächig wird (Spektrum der

Homöopathie 1/2020, S. 92 f). Für die Mittelfindung in den

Anfängen des Lebens muss der Behandelnde immer die Themen

aus der transgenerationalen Anamnese berücksichtigen.

FALLBEISPIEL 1: Jan, 4 Monate alt, Schlafstörungen

Jan, vier Monate alt, wird vorgestellt wegen extremer Schlafstö-

rungen. Er fährt alle halbe Stunde aus dem Schlaf hoch, er wirkt

erschrocken, schreit und lässt sich nicht beruhigen. Anschließend

schläft er für eine halbe oder ganze Stunde wieder ein. Manch-

mal ist er auch stundenlang nachts wach. Beim Hochnehmen

erschlafft er manchmal für einige Sekunden, einige Male hat

er danach gespuckt. In der Schwangerschaft war seine Mutter

zunehmend beunruhigt und fragte sich, ob sie das schaffen

könnte. Jedes weitere Wachstum des Kindes hat sie geängs-

tigt, unmittelbar vor der Geburt entwickelte sie Todesangst und

große Schreckhaftigkeit, eine Furcht, ihr Leben sei zu Ende.

Sie wollte niemanden mehr, auch die Hebammen nicht, außer

ihrem Mann bei sich sehen, ihn allerdings sehr nah und dicht.

Folgende Themen kristallisierten sich heraus.

Keinen neuen Schritt tun:

Wegen des Rückzugs aus der Ge-

sellschaft (zu distanziert von anderen und zu nah beim Ehe-

mann) und des Misstrauens (gegen die Hebamme), der großen

Angst vor Veränderung (Geburt) und der hohen Sinnesemp-

findlichkeit habe ich ihren Zustand nicht nur am Ende der

Schwangerschaft den Themen der Apiaceae zugeordnet. Denn

die Mutter berichtet, wie schwierig die Familienatmosphäre in

ihrer Kindheit gewesen sei. Ihre Eltern seien nach Deutschland

gekommen wegen der Arbeit, hätten sich zeitlebens nicht an

die hiesige Kultur gewöhnen können und hätten sich abge-

lehnt und unverstanden gefühlt. Bis zur Schulzeit habe sie sich

nur im Kreis der Familie bewegt. Einerseits finden wir hier das

Thema der Umbelliferen der „Entfremdung vom anderen“, wie

es Michal Yakir nennt. Und damit die Themen des Rückzugs, der

sich steigernden Angst vor der neuen Situation, der Furcht vor

Veränderung und des vergeblichen Versuchs, den Status quo

zu erhalten. In der Prüfung von Cicuta virosa wird beschrieben,

wie Objekte einmal als ganz nah und dann wieder weit weg

empfunden werden. Gleichzeitig vollzieht sich der Rückzug aus

der Gesellschaft. In einer entsprechenden gefühlsmäßigen Lage

lebte die Mutter vor der Geburt.

Totstellreflex:

An Jan war zu beobachten, wie er, wenn auch

nur kurz, schlaff wird, besonders nachdem man ihn hochnimmt.

(Möglicherweise auch eine Abneigung gegen Berührung?) Ich

APIACEAE IN DEN FÜNF PHASEN

DES STRESSZYKLUS

Lebensangst:

Zu den Themen im Stresszyklus der Apiaceae

(Umbelliferen), die wir bei der Anamnese der Eltern- und

Großelterngeneration finden, gehört sehr zentral Lebens-

angst oder eine Angst vor dem Tode sowie eine Angst vor

jeder Änderung des jetzigen Zustandes, man will einfach

nicht in neue Umstände eintreten.

Wahrnehmung (1):

Festzustellen ist eine hohe Lichtemp-

findlichkeit. Das bedeutet im übertragenen Sinne, dass es als

beunruhigend empfunden wird, sich auf neue Erfahrungen

und Erkenntnisse einzulassen.

Handlung (2):

Daraus ergibt sich ein Handeln mit dem Ziel,

sich abzuschotten; Angst, die Tür zu öffnen, sich zu entfrem-

den und sich zu verkrampfen bis zu Spasmen.

Energiehaushalt (3):

Aufgrund der unterdrückten Gefühle

neigt der Energiehaushalt zu Steifheit und Trockenheit. In

der weiteren Entwicklung verhindern fixe Ideen und Rigidität

die Erholung.

Erholung (4)

und

Wiederherstellung (5)

der Energiere-

gulation: Wegen der inneren Leere, der Lähmung und der

abgeschotteten Sicht auf die Umgebung funktioniert auch

die Wiederherstellung nicht (Siehe auch M. Yakir, Ordnung

der Pflanzen, S. 519 f).