Für meinen Vater existiere ich nicht: Ein Fall von Ficus religiosa

von Sujit Chatterjee, Manish Yadav, Sadaf Ulde

 

Die 29-jährige Patientin kam im Januar 2012 mit folgendem Symptombild zu uns: multiple Schwellungen am ganzen Körper, Müdigkeit und Erschöpfung, Stimmungsschwankungen mit depressiven Episoden und großer Niedergeschlagenheit. Außerdem nahm sie an Gewicht zu, litt unter Haarausfall und ihre Haut wurde zunehmend trocken. 2011 war bei ihr eine grenzwertige Hypothyreose (TSH – 5.47) diagnostiziert worden. Der behandelnde Arzt empfahl eine medikamentöse Therapie mit Eltroxin, die von der Patientin abgelehnt wurde.

 

Zu diesem Zeitpunkt war auch der Menstruationszyklus der Patientin sehr unregelmäßig. Der Gynäkologe fand polyzystische Ovarien und wollte Hormonpräparate verschreiben. Dies wurde von der Patientin ebenfalls abgelehnt.

 

Zusätzlich hatte die junge Frau wegen eines Bandscheibenvorfalls in der Lendenwirbelsäule (L5) starke Rückenschmerzen.

 

Die Patientin muss berufsbedingt viel verreisen, was sie zunehmend als Stress empfindet. Sie fühlt sich „extrem erschöpft und überhaupt nicht belastbar – ich bin einfach nur müde.“

 

Sie berichtet, dass es ihr schwer fällt, Entscheidungen zu treffen und sie sich selbst nur wenig zutraut. Das war früher anders. Vor allem im Beruf war sie selbstbewusst gewesen und konnte z.B. ohne Probleme über ein Thema referieren, was ihr mittlerweile sehr schwer fällt. Sie hat oft das Gefühl, auf Hilfe angewiesen zu sein, traut sich aber nicht, ihre Kollegen um Hilfe zu bitten. Sie ist verlegen und zögerlich und kann sich nur schwer durchsetzen.

 

Die Patientin äußert das Gefühl, ihre eigene Depression könnte im Zusammenhang mit der schweren Depression ihres Vaters stehen: „Ich versuche ihn da rauszuziehen.“ Wegen der schweren Erkrankung des Vaters musste die junge Frau die Verantwortung für ihre Familie übernehmen - auch in finanzieller Hinsicht - eine Last, die sehr schwer wiegt.

 

Die Patientin wurde in eine wohlhabende Familie geboren und erinnert sich an eine unbeschwerte und finanziell großzügige Kindheit. Dieses unbeschwerte Glück wurde jäh unterbrochen, als ihr Vater von seinem Geschäftspartner – dem Onkel der Patientin – betrogen wurde und alles verlor. Das gesamte Vermögen der Familie, einschließlich Elternhaus, musste veräußert werden. „Es war ein plötzlicher Absturz, bis ganz unten. Es war für alle ein fürchterlicher Schock.“ Sie hatte die Veränderungen ohne Aufbegehren hingenommen, aber nicht wirklich verstanden, was passiert war. Der plötzliche gesellschaftliche Absturz hatte die ganze Familie zutiefst getroffen.

 

Als die Krankheit des Vaters immer gravierender wurde, fiel die Verantwortung für die Familie an die Tochter. Die Patientin hatte das Gefühl, von ihrer Familie dabei keinerlei Unterstützung zu bekommen, was eine „große Wut und Negativität in mir auslöste“.

 

Sie äußerte das Gefühl, von ihrem Vater nicht geliebt zu werden und glaubt, dass er sie gar nicht wirklich wahrnimmt, so, als würde sie für ihn nicht existieren. Sie berichtete, dass „ich von der Situation völlig überrollt wurde. Ich bin komplett zusammengebrochen.“ Manchmal konnte sie trotz Schlaftabletten nicht einschlafen.

 

Die Patientin hat bereits einen Suizidversuch hinter sich und wurde stationär behandelt, weil sie 40 Schlaftabletten geschluckt hatte. Sie erzählte: „Mir ging es emotional sehr schlecht. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich überhaupt nicht mehr leben. Ich hatte ja nicht erwartet, dass er mir etwas zurückgeben oder sich um mich kümmern würde. Ich weiß, er ist schon alt. Aber der Gedanke, dass ich für ihn einfach nicht existiere, kam als großer Schock für mich.“

 

Als wir sie danach fragten, wie sich dieser Schock anfühlt, erzählte sie, dass sie sich völlig am Boden zerstört gefühlt hatte; sie konnte nicht glauben, dass sie für ihren Vater nicht existierte. Die Patientin berichtete: „Sein mangelndes Interesse an mir und meinem Leben war sehr schlimm für mich, es hat sich in mir aufgestaut. Nichts konnte mich glücklich machen, ich sah keine Zukunft mehr für mich. Ich hatte keine Perspektive mehr. Etwas ist in mich eingedrungen und hat dafür gesorgt, dass ich mir keine Zukunft mehr vorstellen konnte. Ich habe mich eingeengt gefühlt, als würde ich ersticken.“

Wir fragten nach, was sie mit „ersticken“ meinte. Die Patientin sagte, sie wolle frei sein und Dinge tun können ohne zu zögern; sie wolle endlich frei durchatmen können. Sie erzählte: „In meinem Kopf, in meinen Gedanken, fühle ich mich steif. Ich halte mich zurück und fühle mich innerlich sehr schwer, als würde ich tonnenschwere Gewichte mit mir herumtragen…..Ich kann keine klaren Gedanken fassen. Viele meiner Gedanken sind sehr verwirrend, durcheinander und wie unaufgeräumt in mir. Wenn das passiert, kann ich mich nicht ausdrücken oder jemanden um Hilfe bitten. Das ganze Durcheinander fühlt sich an wie enormer Druck und Schwere, die sich in mir aufbaut; diese schreckliche Gefühl will ich loswerden, rauslassen.“ Gleichzeitig ist die Patientin so erschöpft, dass sie nicht mehr viel machen kann. Sie leidet unter einem nahezu vollständigen Kräfteverlust.

 

Als wir sie baten, diese ‚Schwere‘ näher zu beschreiben, sagte sie: „Es fühlt sich an, als könne ich meinen Körper nicht frei bewegen. Es ist, als trüge ich viel Gewicht mit mir herum. Ich möchte einfach nur noch daliegen und mich nicht bewegen. Es fühlt sich an, als wären tonnenschwere Gewichte an meinen Schultern festgebunden. Festgezurrt mit vielen Seilen. Viele Gedanken, die durcheinander sind und meinen Kopf und meine Schultern sehr schwer werden lassen; ich fühle mich müde; mein Kopf schmerzt.“

 

Ich bat sie, die Schmerzen näher zu beschreiben. Sie beschreibt es als „erschöpftes, müdes Gefühl, als würde ich irgendwo feststecken, verwirrt, ich weiß nicht, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Welche Richtung zeigt nach vorne?“

 

Als ich die Patientin nach dem Gegenteil dieser Situation fragte, sagte sie: „Frei sein.“

 

Auf die Frage, was für sie ‚frei‘ bedeute, sagte sie: „‘frei‘ heißt ‚leicht wie eine Feder‘.“ Sie beschreibt ihre Empfindung dieser Situation als „sich nicht an vergangenen oder zukünftigen Gedanken festhalten. Ein solches Gefühl wäre wunderbar, ich würde mich frei bewegen können. Es würde mir erlauben, die Dinge einfach zu tun. Dann gäbe es Glück und Fröhlichkeit, eine Gelassenheit, wie man sie bei der Musik und beim Tanzen erlebt. Ein Tanz wie der Salsa - leicht und beschwingt, angenehm, ein Glücksgefühl. Alles fließt. Es ist ein glückliches, erhabenes Gefühl.“

 

Die Patientin erzählte weiter: „Ich kann ein großes Gewicht auf meinen Schultern spüren, das ich am liebsten wegdrücken würde; dieses zusätzliche Gewicht wäre ich gerne los. “Sie sagte, sie wolle „sich selbst“ finden. Als wir sie darum baten, dieses innere ‚Selbst‘ zu visualisieren, berichtete sie: „Ein selbstbewusster, ausgelassener und optimistischer Mensch. Nicht in einer Situation feststecken, sondern sie anpacken und dann weitergehen. Ich möchte mich an nichts festhalten müssen, ich möchte nicht bei Dingen verweilen müssen, die mir schaden. Das erstickt mich, denn Herz und Seele befinden sich nicht im Einklang.“ Sie beschrieb die Empfindung wieder als erstickend; sie könne nicht frei durchatmen.

 

Ich fragte die Patientin, die Empfindung des „Erstickens, des Nicht-frei-durchatmens“ näher zu beschreiben. Sie sagte: „Es zieht sich zusammen. Sie üben viel Druck auf mich aus.“ An dieser Stelle macht sie eine Geste, als wolle sie ihre Hände zusammenquetschen. Wir baten sie darum, ihre Geste näher zu beschreiben und sie erzählte: „Es gibt viel Druck und ich habe das Bedürfnis nach Freiheit, mich zu öffnen. Ich fühle mich eingeengt und steif…die Steifheit ist kompakt, sie drückt zusammen – und das hindert mich daran, frei zu sein. Die Steifheit fühlt sich eng und starr an.“

 

Wir fragten sie nach dem Gegenteil und die Patientin sagte: „Ruhig und entspannt, ich kann mich mühelos und ungehindert bewegen, ein sehr angenehmes Gefühl.“ Sie beschreibt die Erfahrung als „entspannt, es gibt mir ein Gefühl von Freiheit und Raum. Ich muss mich bewegen können. Es ist, als gäbe es diesen inneren Kampf – man will sich bewegen und frei sein. Dieser ständige Kampf, der Widerspruch, raubt mir alle Energie, er erschöpft mich. Dann kommt die Müdigkeit, sie macht mich träge und völlig erschöpft und kraftlos.“ Als ich sie nach ‚erschöpft und kraftlos‘ frage, sagt sie: „Die Energie schwindet. Dieser Kampf vernichtet alles, ich unterwerfe mich dem Kampf.“

 

Die Patientin erinnert sich an einen Traum, den sie als Kind oft träumte: Sie läuft eine sehr lange Wegstrecke, über Berge und durch Täler, sie läuft und läuft und immer alleine. Sie erzählte uns, dass sie sich in dem Traum immer sehr „verlassen fühlte; als hätte ich mich verlaufen und wüsste nicht mehr weiter. ‚Verlassen‘ heißt in diesem Fall „Ich weiß nicht, welche Richtung ich einschlagen soll. Ich weiß nicht, welcher Weg der richtige und welcher der falsche ist.“

 

Sie erzählt auch, dass sie zurzeit oft von Menschen träumt, die sie kennt, die aber nichts miteinander zu tun haben – auf der einen Seite Freunde und Verwandte, auf der anderen Arbeitskollegen. “Alle treffen sich in meinen Träumen. Wenn man aber darüber nachdenkt, dann gibt es eigentlich keine Verbindung zwischen den Leuten. Ich weiß nicht, woher sie sich kennen, oder wie sie überhaupt dorthin kommen.“ Als wir sie nach ihrer Empfindung dazu befragten, erzählte sie: „Das fließt alles irgendwie.“

 

Die Patientin beschrieb einen anderen Traum, in dem sie in einem großen Haus mit einem großen Garten wohnt. „Links vom Haus gibt es einen Tempel und rechts steht ein zweistöckiges Gebäude. Im Erdgeschoss gibt es eine große Empfangshalle oder einen Speisesaal; es ist ein Ort, an dem die Leute zusammensitzen können; die Küche befindet sich auch im Erdgeschoss.“ Sie erzählt weiter: „Immer, wenn ich von diesem Haus träume, bin ich verheiratet, also befinden sich im ersten Stock die Räume meiner Eltern und die meiner Schwiegereltern. Mein Zimmer ist im zweiten Stock; von der einen Seite kann ich auf das Meer schauen, vom anderen Ende habe ich einen Blick auf den Garten und den Rasen, der auch zum Grundstück gehört.“

 

Wir fragten sie nach ihrem Erleben in diesem Traum und sie sagte: „Es ist so schön; entspannt, ruhig, glücklich und gelassen. Es ist ein Gefühl der Freiheit – es gibt nichts Negatives, das die Kontrolle über mich hat. Es fühlt sich sicher und geborgen an.“

 

Die Patientin beschrieb ihre Empfindung von ‚Freiheit‘ als „grundsätzlich Bewegung und nichts hält mich zurück, es gibt keinen Druck. Das macht mich glücklich und leicht wie eine Feder, ganz ohne Gepäck. Ohne Schwere.“

 

Wir fragten sie nach der schlimmsten Situation ihres Lebens und sie erzählte von einem Vorfall, bei dem sie von einem Mann belästigt wurde. Sie war noch sehr jung gewesen und hatte zuerst nicht verstanden, was passiert war. In der siebten Klasse erzählte sie dann ihrer Mutter von dem Vorfall, die sofort mit ihrem Vater darüber sprach. Wenige Zeit später traf der Vater der Patientin auf den Mann, der seine Tochter belästigt hatte, verhielt sich ihm gegenüber jedoch normal, so, als sei nichts geschehen. Das Verhalten ihres Vaters kränkte die Patientin zutiefst, sie fühlte sich verletzt und war wütend auf ihren Vater, der ihre Situation ignorierte. Sie beschrieb die Erfahrung als „wie ein Ertrinken, man geht unter. Beim Ertrinken bekommt man keine Luft mehr. Du willst weinen, bist aber völlig reglos, empfindest nichts mehr, wie tot. Du willst Luft holen, aber du erstickst, du willst einfach nur sterben.“

 

Wir fragten die Patientin nach ihren Hobbys und Interessen und sie erzählt uns, dass sie gerne malt, Musik hört, ins Kino geht und sich gerne mit Freunden trifft. Sie zeichnet besonders gerne Häuser und führt das zurück auf den Verlust des Elternhauses in ihrer Kindheit. Wenn sie Häuser zeichnet versieht sie diese immer mit „Herzen, die von einem Pfeil durchbohrt werden; das bedeutet Verletzung, Schmerz, Tränen, die mit Blut vergossen werden.“ Auf Nachfrage erzählte sie: „Die Tränen sollen den Schmerz darstellen. Verletzte Gefühle, hilflos, nicht wissen, was man in einer bestimmten Situation tun soll. Ich habe mich verlassen gefühlt, einsam und vernachlässigt; keiner war da, der mir helfen konnte.“

 

Körperliche Allgemeinsymptome

 

Speisen und Getränke: Die Patientin ist nicht wählerisch; sie isst eigentlich alles. Sie erwähnt, dass sie sehr gerne Hühnchen und Meeresfrüchte isst.

Schlaflage: Auf der Seite, mit einer Hand unter dem Kopfkissen.

Menstruationszyklus: War früher regelmäßig, jetzt nicht mehr wegen der polyzystischen Ovarien.

 

Auf unsere Frage, wie sie sich nach der Fallaufnahme fühle, antwortete die Patientin: „Ich fühle mich erleichtert, befreiter.“

 

Analyse

 

Die relevanten Themen:

 

Gelassen, ruhig

‚Schwer‘ im Gegensatz zu ‚leicht‘

Mit dem Gepäck der Vergangenheit belastet sein

Ersticken, keine Luft bekommen, nicht frei atmen können

Belästigung

Träume: alleine gehen, verloren sein

Vernachlässigt, verlassen

 

In diesem Fallbeispiel sind die Aspekte des Pflanzenreichs stark vertreten, es geht um Empfindung und Gegensätze, um die Gegenpole einer Empfindung. Aus diesem Grund suchte ich nach einem pflanzlichen Mittel. Das Miasma schwankt zwischen Tuberkulose und Lepra. Wir erkennen das an dem grundlegenden Gefühl der Patientin, keine Unterstützung zu erhalten. Der Vater hat sie verlassen, sie hat einen Suizidversuch hinter sich, sie fühlt sich einsam, eingeengt und glaubt zu ersticken. Das Gefühl, von ihrem Vater ignoriert zu werden, kommt wie ein Schock über sie. Das gibt uns einen weiteren Hinweis auf das Pflanzenreich, den diese Merkmale sprechen gegen Hydrogenium. Wir lernen auch, dass die Patientin den Schock mit Schwere in Verbindung bringt, es ist wie ein Gewicht, von dem sie erstickt wird. Es ist das Gegenteil von leicht, gelassen und ruhig. Das führt uns direkt zu den Hamamelidae.

 

Ich suchte nach einem Arzneimittel, in denen die Themen ‚Erstickung‘, ‚Atemnot‘ und ‚verloren, verlassen sein‘ eine Rolle spielen. Außerdem ist das Thema Vater und Familie stark vertreten.

 

Empfindung der Hamamelidae nach Sankaran (1)

Komprimiert/zusammengedrückt

Geschlossen, eingesperrt

Drückend, schwer, Last

Fixiert und begrenzt

Offen

Ausweitung/Ausdehnung, vergrößert

Fliegen, schwebend

Leicht, frei

 

Passive Reaktion

Trägheit, Stumpfheit der Sinne

Geerdet, jegliche Bewegung stagniert

Verlangen sich hinzulegen, sich auszuruhen; Rast amel.

Abneigung gegen Bewegung

Gelähmt

 

Aktive Reaktion

Verlangen Bewegung; Bewegung amel.

Verlangen an der frischen Luft zu sein, frische Luft amel.

Phantasiert, Einbildungen

 

Kompensation

Passt sich an das Leben in einem begrenzten, engen Raum an

Ausgeglichen (weder ekstatisch noch niedergeschlagen)

 

Besonderheiten des Falles

Trägt eine schwere Last mit sich.

Hält sich an ‚Gepäck‘ fest, will etwas nicht verlieren; kein Kontakt

Viel Wut auf den Vater

 

Themen der Arzneimittelprüfung, die mit denen des Fallbeispiels übereinstimmen

Müdigkeit

Tut etwas für andere; und das Gegenteil: fühlt sich nutzlos.

Anderen helfen und dienen

Verliert den Kontakt.

Freundschaft im Gegensatz zu Einsamkeit

 

Auszüge aus der Arzneimittelprüfung

Prüfer B – fühle mich ruhig.

Prüfer D – die zufällige Berührung eines Mannes machte sie aggressiv

Prüfer E – außer Atem, > frische Luft

Prüfer G – ich habe keine Freunde; ich bin ganz alleine in dieser Welt; starkes Verlangen nach Gesellschaft. Ich will wieder zu meinen Freunden zurück (in eine andere Stadt). Ich fühlte mich sehr alleine, als hätte ich niemanden bei mir.

Prüfer D/E/F – gleichgültig gegenüber der Mutter, obwohl diese krank war. Streitet sich mit der Mutter.

Prüfer K – wollte alleine sein.

Prüfer L – meine Freunde meiden mich.

Prüfer E – ich war im Brabourne Stadion; ich wollte wieder nach Hause gehen, konnte aber den Weg nicht finden. Ein Freund musste mir den Weg zeigen.

 

Themen, die im vorliegenden Fall und in der Arzneimittelprüfung auftauchen:

Kontaktverlust

Jemanden für immer verlieren

Trennung von Freunden und Familie

Gegensätze/Polarität: Freunde treffen sich.

 

Verschreibung: Ficus religiosa 1M, zweimal täglich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, gefolgt von Sac lac, zweimal täglich einen Monat lang. Es wurde die 1M gewählt, weil die Themen des Falles zu hohem Grade mit den Prüfungssymptomen übereinstimmten. Auch das System und die Quelle waren deutlich zu erkennen.

 

Follow-up am 05.04.2012

Im Großen und Ganzen geht es der Patientin viel besser. Über die Probleme mit ihrem Vater sagt sie: „Ich mache ihm keine Vorwürfe mehr und schaue nach vorn. Ich will mich nicht mit unnötigen Gedanken belasten, oder mir dieses unnötige Gepäck aufhalsen. Ich will das alles abwerfen und hinter mir lassen.“ (Themen aus der Vergangenheit zu klären ist auch ein wichtiges Prüfungssymptom).

 

Verschreibung: Ficus religiosa 1M wird wiederholt.

 

Follow-up am 14.05.2012

Die Patientin bringt ihre aktuellen Befunde in die Sprechstunde. Ihr TSH liegt bei 3.81. Sie sagt: „Mir geht es viel besser als vorher. Ich freue mich sehr, dass sich meine Schilddrüse wieder reguliert hat und ich keine Medikamente nehmen muss. Bei den polyzystischen Ovarien hat sich auch viel verändert, mein Zyklus ist wieder regelmäßig. Ich habe 4/5 Kilogramm abgenommen und ich habe mehr Energie. Ich bin sehr glücklich mit dem Ergebnis. Ich fühle mich glücklicher und leichter.“

 

Sie berichtet, dass sie auch kaum noch Stimmungsschwankungen habe und auch an ihrer Arbeitsstelle belastbarer geworden ist. Sie kann Herausforderungen wieder annehmen, obwohl die Arbeitslast deutlich gestiegen ist und sie vielleicht mit einer Entlassung rechnen muss. Die Patientin erzählt: „ Früher hätte mich die ganze Situation sehr belastet, es hätte mich depressiv gemacht. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich fühle mich ganz normal. Ich nehme es relativ gelassen.“

 

Sie erwähnt, dass es noch ein paar kleinere Beschwerden gibt, die sie gerne klären möchte, z.B. Obstipation und schießende Kopfschmerzen, die sie von Zeit zu Zeit plagen. Allgemein hat sie deutlich mehr Energie als früher und auch ihre Essgewohnheiten haben sich verbessert. Sie sagt, dass sie früher oft Blähungen hatte, die nach Einnahme des Mittels verschwanden.

 

Verschreibung: Sac lac, einen Monat lang zweimal täglich.

 

Follow-up am 05.07.2013

Der Menstruationszyklus der Patientin ist jetzt regelmäßig. Ihre seelische Verfassung beschreibt sie als ausgeglichen und zufrieden. Sie sagt, sie fühle sich leicht und unbefangen und habe mehr Energie. Sie ist aktiver geworden.

 

Seit Kurzem ist sie verlobt und wird bald heiraten.

 

Gelegentlich leidet sie noch unter Verstopfung und hat eine sehr leichte Akne.

 

Verschreibung: Sac lac

 

Der nächste Termin der Patientin war am 21.01.2013. Es geht ihr gut und ihr Gesundheitszustand macht weiterhin Fortschritte.

 

Verschreibung: Sac lac, einen Monat lang zweimal täglich.

 

Follow-up am 06.06.2013

Der Patientin geht es insgesamt viel besser. Ihr Menstruationszyklus ist weiterhin regelmäßig, auch die Schilddrüsenfunktion bleibt stabil. Sie hat keine Depressionen. Ihre Stimmung ist gut, der Energiepegel auch.

 

Die Verlobung der Patientin wurde gelöst, sie konnte sehr gut mit der Situation umgehen.

 

Sie hatte einen Traum, in dem sie alleine war und sich verirrt hatte (bestätigt nochmals das Miasma der Patientin).

 

Kommentar

Fast hätte ich das richtige Arzneimittel nicht gefunden. Den entscheidenden Hinweis gab mir das Gefühl der Schwere und Trägheit (mit dem Gegenteil offen, frei, groß) von dem die Patientin berichtete. Das ist die grundlegende Empfindung der Hamamelidae. Dieser Fall ist sehr lehrreich gewesen und veranschaulicht einen kritischen Aspekt der homöopathischen Verschreibung: Wenn Sie das System eines Patienten verstanden haben und während der Fallbearbeitung auf eine bestimmte Familie stoßen, die den Symptomen und dem System des Patienten entspricht, dann ist es sehr wichtig, alle Pflanzen dieser Familie zu studieren. Denn nur so können Sie die eigentümlichen – also differenzierenden - Symptome des Falles wirklich finden. Im vorliegenden Fallbeispiel sind die eigentümlichen Symptome folgende: Traum vom Verirren, vom Verloren-sein; vom Allein-sein; Gleichgültigkeit gegenüber Familienmitgliedern; das Gefühl der Patientin, in der Beziehung zu ihrem Vater festzustecken und nicht weiterzukommen, bis diese Probleme gelöst waren.

 

  1. Sankaran, Rajan: „Tabelle der Pflanzenempfindungen“, Sankarans Tabellen, Auflage 2006, Homeopathic Mediacl Publishers, Indien

 

Dieses Fallbeispiel wurde ursprünglich unter http://theothersong.wordpress.com/ im Newsletter ‚Voice‘ veröffentlicht.

 

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: Hypothyreose, polyzystische Ovarien, Depression, Lethargie, verloren, feststecken, komprimiert, ersticken

Für meinen Vater existiere ich nicht: Ein Fall von Ficus religiosa

von Sujit Chatterjee, Manish Yadav, Sadaf Ulde

 

Die 29-jährige Patientin kam im Januar 2012 mit folgendem Symptombild zu uns: multiple Schwellungen am ganzen Körper, Müdigkeit und Erschöpfung, Stimmungsschwankungen mit depressiven Episoden und großer Niedergeschlagenheit. Außerdem nahm sie an Gewicht zu, litt unter Haarausfall und ihre Haut wurde zunehmend trocken. 2011 war bei ihr eine grenzwertige Hypothyreose (TSH – 5.47) diagnostiziert worden. Der behandelnde Arzt empfahl eine medikamentöse Therapie mit Eltroxin, die von der Patientin abgelehnt wurde.

 

Zu diesem Zeitpunkt war auch der Menstruationszyklus der Patientin sehr unregelmäßig. Der Gynäkologe fand polyzystische Ovarien und wollte Hormonpräparate verschreiben. Dies wurde von der Patientin ebenfalls abgelehnt.

 

Zusätzlich hatte die junge Frau wegen eines Bandscheibenvorfalls in der Lendenwirbelsäule (L5) starke Rückenschmerzen.

 

Die Patientin muss berufsbedingt viel verreisen, was sie zunehmend als Stress empfindet. Sie fühlt sich „extrem erschöpft und überhaupt nicht belastbar – ich bin einfach nur müde.“

 

Sie berichtet, dass es ihr schwer fällt, Entscheidungen zu treffen und sie sich selbst nur wenig zutraut. Das war früher anders. Vor allem im Beruf war sie selbstbewusst gewesen und konnte z.B. ohne Probleme über ein Thema referieren, was ihr mittlerweile sehr schwer fällt. Sie hat oft das Gefühl, auf Hilfe angewiesen zu sein, traut sich aber nicht, ihre Kollegen um Hilfe zu bitten. Sie ist verlegen und zögerlich und kann sich nur schwer durchsetzen.

 

Die Patientin äußert das Gefühl, ihre eigene Depression könnte im Zusammenhang mit der schweren Depression ihres Vaters stehen: „Ich versuche ihn da rauszuziehen.“ Wegen der schweren Erkrankung des Vaters musste die junge Frau die Verantwortung für ihre Familie übernehmen - auch in finanzieller Hinsicht - eine Last, die sehr schwer wiegt.

 

Die Patientin wurde in eine wohlhabende Familie geboren und erinnert sich an eine unbeschwerte und finanziell großzügige Kindheit. Dieses unbeschwerte Glück wurde jäh unterbrochen, als ihr Vater von seinem Geschäftspartner – dem Onkel der Patientin – betrogen wurde und alles verlor. Das gesamte Vermögen der Familie, einschließlich Elternhaus, musste veräußert werden. „Es war ein plötzlicher Absturz, bis ganz unten. Es war für alle ein fürchterlicher Schock.“ Sie hatte die Veränderungen ohne Aufbegehren hingenommen, aber nicht wirklich verstanden, was passiert war. Der plötzliche gesellschaftliche Absturz hatte die ganze Familie zutiefst getroffen.

 

Als die Krankheit des Vaters immer gravierender wurde, fiel die Verantwortung für die Familie an die Tochter. Die Patientin hatte das Gefühl, von ihrer Familie dabei keinerlei Unterstützung zu bekommen, was eine „große Wut und Negativität in mir auslöste“.

 

Sie äußerte das Gefühl, von ihrem Vater nicht geliebt zu werden und glaubt, dass er sie gar nicht wirklich wahrnimmt, so, als würde sie für ihn nicht existieren. Sie berichtete, dass „ich von der Situation völlig überrollt wurde. Ich bin komplett zusammengebrochen.“ Manchmal konnte sie trotz Schlaftabletten nicht einschlafen.

 

Die Patientin hat bereits einen Suizidversuch hinter sich und wurde stationär behandelt, weil sie 40 Schlaftabletten geschluckt hatte. Sie erzählte: „Mir ging es emotional sehr schlecht. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich überhaupt nicht mehr leben. Ich hatte ja nicht erwartet, dass er mir etwas zurückgeben oder sich um mich kümmern würde. Ich weiß, er ist schon alt. Aber der Gedanke, dass ich für ihn einfach nicht existiere, kam als großer Schock für mich.“

 

Als wir sie danach fragten, wie sich dieser Schock anfühlt, erzählte sie, dass sie sich völlig am Boden zerstört gefühlt hatte; sie konnte nicht glauben, dass sie für ihren Vater nicht existierte. Die Patientin berichtete: „Sein mangelndes Interesse an mir und meinem Leben war sehr schlimm für mich, es hat sich in mir aufgestaut. Nichts konnte mich glücklich machen, ich sah keine Zukunft mehr für mich. Ich hatte keine Perspektive mehr. Etwas ist in mich eingedrungen und hat dafür gesorgt, dass ich mir keine Zukunft mehr vorstellen konnte. Ich habe mich eingeengt gefühlt, als würde ich ersticken.“

Wir fragten nach, was sie mit „ersticken“ meinte. Die Patientin sagte, sie wolle frei sein und Dinge tun können ohne zu zögern; sie wolle endlich frei durchatmen können. Sie erzählte: „In meinem Kopf, in meinen Gedanken, fühle ich mich steif. Ich halte mich zurück und fühle mich innerlich sehr schwer, als würde ich tonnenschwere Gewichte mit mir herumtragen…..Ich kann keine klaren Gedanken fassen. Viele meiner Gedanken sind sehr verwirrend, durcheinander und wie unaufgeräumt in mir. Wenn das passiert, kann ich mich nicht ausdrücken oder jemanden um Hilfe bitten. Das ganze Durcheinander fühlt sich an wie enormer Druck und Schwere, die sich in mir aufbaut; diese schreckliche Gefühl will ich loswerden, rauslassen.“ Gleichzeitig ist die Patientin so erschöpft, dass sie nicht mehr viel machen kann. Sie leidet unter einem nahezu vollständigen Kräfteverlust.

 

Als wir sie baten, diese ‚Schwere‘ näher zu beschreiben, sagte sie: „Es fühlt sich an, als könne ich meinen Körper nicht frei bewegen. Es ist, als trüge ich viel Gewicht mit mir herum. Ich möchte einfach nur noch daliegen und mich nicht bewegen. Es fühlt sich an, als wären tonnenschwere Gewichte an meinen Schultern festgebunden. Festgezurrt mit vielen Seilen. Viele Gedanken, die durcheinander sind und meinen Kopf und meine Schultern sehr schwer werden lassen; ich fühle mich müde; mein Kopf schmerzt.“

 

Ich bat sie, die Schmerzen näher zu beschreiben. Sie beschreibt es als „erschöpftes, müdes Gefühl, als würde ich irgendwo feststecken, verwirrt, ich weiß nicht, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Welche Richtung zeigt nach vorne?“

 

Als ich die Patientin nach dem Gegenteil dieser Situation fragte, sagte sie: „Frei sein.“

 

Auf die Frage, was für sie ‚frei‘ bedeute, sagte sie: „‘frei‘ heißt ‚leicht wie eine Feder‘.“ Sie beschreibt ihre Empfindung dieser Situation als „sich nicht an vergangenen oder zukünftigen Gedanken festhalten. Ein solches Gefühl wäre wunderbar, ich würde mich frei bewegen können. Es würde mir erlauben, die Dinge einfach zu tun. Dann gäbe es Glück und Fröhlichkeit, eine Gelassenheit, wie man sie bei der Musik und beim Tanzen erlebt. Ein Tanz wie der Salsa - leicht und beschwingt, angenehm, ein Glücksgefühl. Alles fließt. Es ist ein glückliches, erhabenes Gefühl.“

 

Die Patientin erzählte weiter: „Ich kann ein großes Gewicht auf meinen Schultern spüren, das ich am liebsten wegdrücken würde; dieses zusätzliche Gewicht wäre ich gerne los. “Sie sagte, sie wolle „sich selbst“ finden. Als wir sie darum baten, dieses innere ‚Selbst‘ zu visualisieren, berichtete sie: „Ein selbstbewusster, ausgelassener und optimistischer Mensch. Nicht in einer Situation feststecken, sondern sie anpacken und dann weitergehen. Ich möchte mich an nichts festhalten müssen, ich möchte nicht bei Dingen verweilen müssen, die mir schaden. Das erstickt mich, denn Herz und Seele befinden sich nicht im Einklang.“ Sie beschrieb die Empfindung wieder als erstickend; sie könne nicht frei durchatmen.

 

Ich fragte die Patientin, die Empfindung des „Erstickens, des Nicht-frei-durchatmens“ näher zu beschreiben. Sie sagte: „Es zieht sich zusammen. Sie üben viel Druck auf mich aus.“ An dieser Stelle macht sie eine Geste, als wolle sie ihre Hände zusammenquetschen. Wir baten sie darum, ihre Geste näher zu beschreiben und sie erzählte: „Es gibt viel Druck und ich habe das Bedürfnis nach Freiheit, mich zu öffnen. Ich fühle mich eingeengt und steif…die Steifheit ist kompakt, sie drückt zusammen – und das hindert mich daran, frei zu sein. Die Steifheit fühlt sich eng und starr an.“

 

Wir fragten sie nach dem Gegenteil und die Patientin sagte: „Ruhig und entspannt, ich kann mich mühelos und ungehindert bewegen, ein sehr angenehmes Gefühl.“ Sie beschreibt die Erfahrung als „entspannt, es gibt mir ein Gefühl von Freiheit und Raum. Ich muss mich bewegen können. Es ist, als gäbe es diesen inneren Kampf – man will sich bewegen und frei sein. Dieser ständige Kampf, der Widerspruch, raubt mir alle Energie, er erschöpft mich. Dann kommt die Müdigkeit, sie macht mich träge und völlig erschöpft und kraftlos.“ Als ich sie nach ‚erschöpft und kraftlos‘ frage, sagt sie: „Die Energie schwindet. Dieser Kampf vernichtet alles, ich unterwerfe mich dem Kampf.“

 

Die Patientin erinnert sich an einen Traum, den sie als Kind oft träumte: Sie läuft eine sehr lange Wegstrecke, über Berge und durch Täler, sie läuft und läuft und immer alleine. Sie erzählte uns, dass sie sich in dem Traum immer sehr „verlassen fühlte; als hätte ich mich verlaufen und wüsste nicht mehr weiter. ‚Verlassen‘ heißt in diesem Fall „Ich weiß nicht, welche Richtung ich einschlagen soll. Ich weiß nicht, welcher Weg der richtige und welcher der falsche ist.“

 

Sie erzählt auch, dass sie zurzeit oft von Menschen träumt, die sie kennt, die aber nichts miteinander zu tun haben – auf der einen Seite Freunde und Verwandte, auf der anderen Arbeitskollegen. “Alle treffen sich in meinen Träumen. Wenn man aber darüber nachdenkt, dann gibt es eigentlich keine Verbindung zwischen den Leuten. Ich weiß nicht, woher sie sich kennen, oder wie sie überhaupt dorthin kommen.“ Als wir sie nach ihrer Empfindung dazu befragten, erzählte sie: „Das fließt alles irgendwie.“

 

Die Patientin beschrieb einen anderen Traum, in dem sie in einem großen Haus mit einem großen Garten wohnt. „Links vom Haus gibt es einen Tempel und rechts steht ein zweistöckiges Gebäude. Im Erdgeschoss gibt es eine große Empfangshalle oder einen Speisesaal; es ist ein Ort, an dem die Leute zusammensitzen können; die Küche befindet sich auch im Erdgeschoss.“ Sie erzählt weiter: „Immer, wenn ich von diesem Haus träume, bin ich verheiratet, also befinden sich im ersten Stock die Räume meiner Eltern und die meiner Schwiegereltern. Mein Zimmer ist im zweiten Stock; von der einen Seite kann ich auf das Meer schauen, vom anderen Ende habe ich einen Blick auf den Garten und den Rasen, der auch zum Grundstück gehört.“

 

Wir fragten sie nach ihrem Erleben in diesem Traum und sie sagte: „Es ist so schön; entspannt, ruhig, glücklich und gelassen. Es ist ein Gefühl der Freiheit – es gibt nichts Negatives, das die Kontrolle über mich hat. Es fühlt sich sicher und geborgen an.“

 

Die Patientin beschrieb ihre Empfindung von ‚Freiheit‘ als „grundsätzlich Bewegung und nichts hält mich zurück, es gibt keinen Druck. Das macht mich glücklich und leicht wie eine Feder, ganz ohne Gepäck. Ohne Schwere.“

 

Wir fragten sie nach der schlimmsten Situation ihres Lebens und sie erzählte von einem Vorfall, bei dem sie von einem Mann belästigt wurde. Sie war noch sehr jung gewesen und hatte zuerst nicht verstanden, was passiert war. In der siebten Klasse erzählte sie dann ihrer Mutter von dem Vorfall, die sofort mit ihrem Vater darüber sprach. Wenige Zeit später traf der Vater der Patientin auf den Mann, der seine Tochter belästigt hatte, verhielt sich ihm gegenüber jedoch normal, so, als sei nichts geschehen. Das Verhalten ihres Vaters kränkte die Patientin zutiefst, sie fühlte sich verletzt und war wütend auf ihren Vater, der ihre Situation ignorierte. Sie beschrieb die Erfahrung als „wie ein Ertrinken, man geht unter. Beim Ertrinken bekommt man keine Luft mehr. Du willst weinen, bist aber völlig reglos, empfindest nichts mehr, wie tot. Du willst Luft holen, aber du erstickst, du willst einfach nur sterben.“

 

Wir fragten die Patientin nach ihren Hobbys und Interessen und sie erzählt uns, dass sie gerne malt, Musik hört, ins Kino geht und sich gerne mit Freunden trifft. Sie zeichnet besonders gerne Häuser und führt das zurück auf den Verlust des Elternhauses in ihrer Kindheit. Wenn sie Häuser zeichnet versieht sie diese immer mit „Herzen, die von einem Pfeil durchbohrt werden; das bedeutet Verletzung, Schmerz, Tränen, die mit Blut vergossen werden.“ Auf Nachfrage erzählte sie: „Die Tränen sollen den Schmerz darstellen. Verletzte Gefühle, hilflos, nicht wissen, was man in einer bestimmten Situation tun soll. Ich habe mich verlassen gefühlt, einsam und vernachlässigt; keiner war da, der mir helfen konnte.“

 

Körperliche Allgemeinsymptome

 

Speisen und Getränke: Die Patientin ist nicht wählerisch; sie isst eigentlich alles. Sie erwähnt, dass sie sehr gerne Hühnchen und Meeresfrüchte isst.

Schlaflage: Auf der Seite, mit einer Hand unter dem Kopfkissen.

Menstruationszyklus: War früher regelmäßig, jetzt nicht mehr wegen der polyzystischen Ovarien.

 

Auf unsere Frage, wie sie sich nach der Fallaufnahme fühle, antwortete die Patientin: „Ich fühle mich erleichtert, befreiter.“

 

Analyse

 

Die relevanten Themen:

 

Gelassen, ruhig

‚Schwer‘ im Gegensatz zu ‚leicht‘

Mit dem Gepäck der Vergangenheit belastet sein

Ersticken, keine Luft bekommen, nicht frei atmen können

Belästigung

Träume: alleine gehen, verloren sein

Vernachlässigt, verlassen

 

In diesem Fallbeispiel sind die Aspekte des Pflanzenreichs stark vertreten, es geht um Empfindung und Gegensätze, um die Gegenpole einer Empfindung. Aus diesem Grund suchte ich nach einem pflanzlichen Mittel. Das Miasma schwankt zwischen Tuberkulose und Lepra. Wir erkennen das an dem grundlegenden Gefühl der Patientin, keine Unterstützung zu erhalten. Der Vater hat sie verlassen, sie hat einen Suizidversuch hinter sich, sie fühlt sich einsam, eingeengt und glaubt zu ersticken. Das Gefühl, von ihrem Vater ignoriert zu werden, kommt wie ein Schock über sie. Das gibt uns einen weiteren Hinweis auf das Pflanzenreich, den diese Merkmale sprechen gegen Hydrogenium. Wir lernen auch, dass die Patientin den Schock mit Schwere in Verbindung bringt, es ist wie ein Gewicht, von dem sie erstickt wird. Es ist das Gegenteil von leicht, gelassen und ruhig. Das führt uns direkt zu den Hamamelidae.

 

Ich suchte nach einem Arzneimittel, in denen die Themen ‚Erstickung‘, ‚Atemnot‘ und ‚verloren, verlassen sein‘ eine Rolle spielen. Außerdem ist das Thema Vater und Familie stark vertreten.

 

Empfindung der Hamamelidae nach Sankaran (1)

Komprimiert/zusammengedrückt

Geschlossen, eingesperrt

Drückend, schwer, Last

Fixiert und begrenzt

Offen

Ausweitung/Ausdehnung, vergrößert

Fliegen, schwebend

Leicht, frei

 

Passive Reaktion

Trägheit, Stumpfheit der Sinne

Geerdet, jegliche Bewegung stagniert

Verlangen sich hinzulegen, sich auszuruhen; Rast amel.

Abneigung gegen Bewegung

Gelähmt

 

Aktive Reaktion

Verlangen Bewegung; Bewegung amel.

Verlangen an der frischen Luft zu sein, frische Luft amel.

Phantasiert, Einbildungen

 

Kompensation

Passt sich an das Leben in einem begrenzten, engen Raum an

Ausgeglichen (weder ekstatisch noch niedergeschlagen)

 

Besonderheiten des Falles

Trägt eine schwere Last mit sich.

Hält sich an ‚Gepäck‘ fest, will etwas nicht verlieren; kein Kontakt

Viel Wut auf den Vater

 

Themen der Arzneimittelprüfung, die mit denen des Fallbeispiels übereinstimmen

Müdigkeit

Tut etwas für andere; und das Gegenteil: fühlt sich nutzlos.

Anderen helfen und dienen

Verliert den Kontakt.

Freundschaft im Gegensatz zu Einsamkeit

 

Auszüge aus der Arzneimittelprüfung

Prüfer B – fühle mich ruhig.

Prüfer D – die zufällige Berührung eines Mannes machte sie aggressiv

Prüfer E – außer Atem, > frische Luft

Prüfer G – ich habe keine Freunde; ich bin ganz alleine in dieser Welt; starkes Verlangen nach Gesellschaft. Ich will wieder zu meinen Freunden zurück (in eine andere Stadt). Ich fühlte mich sehr alleine, als hätte ich niemanden bei mir.

Prüfer D/E/F – gleichgültig gegenüber der Mutter, obwohl diese krank war. Streitet sich mit der Mutter.

Prüfer K – wollte alleine sein.

Prüfer L – meine Freunde meiden mich.

Prüfer E – ich war im Brabourne Stadion; ich wollte wieder nach Hause gehen, konnte aber den Weg nicht finden. Ein Freund musste mir den Weg zeigen.

 

Themen, die im vorliegenden Fall und in der Arzneimittelprüfung auftauchen:

Kontaktverlust

Jemanden für immer verlieren

Trennung von Freunden und Familie

Gegensätze/Polarität: Freunde treffen sich.

 

Verschreibung: Ficus religiosa 1M, zweimal täglich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, gefolgt von Sac lac, zweimal täglich einen Monat lang. Es wurde die 1M gewählt, weil die Themen des Falles zu hohem Grade mit den Prüfungssymptomen übereinstimmten. Auch das System und die Quelle waren deutlich zu erkennen.

 

Follow-up am 05.04.2012

Im Großen und Ganzen geht es der Patientin viel besser. Über die Probleme mit ihrem Vater sagt sie: „Ich mache ihm keine Vorwürfe mehr und schaue nach vorn. Ich will mich nicht mit unnötigen Gedanken belasten, oder mir dieses unnötige Gepäck aufhalsen. Ich will das alles abwerfen und hinter mir lassen.“ (Themen aus der Vergangenheit zu klären ist auch ein wichtiges Prüfungssymptom).

 

Verschreibung: Ficus religiosa 1M wird wiederholt.

 

Follow-up am 14.05.2012

Die Patientin bringt ihre aktuellen Befunde in die Sprechstunde. Ihr TSH liegt bei 3.81. Sie sagt: „Mir geht es viel besser als vorher. Ich freue mich sehr, dass sich meine Schilddrüse wieder reguliert hat und ich keine Medikamente nehmen muss. Bei den polyzystischen Ovarien hat sich auch viel verändert, mein Zyklus ist wieder regelmäßig. Ich habe 4/5 Kilogramm abgenommen und ich habe mehr Energie. Ich bin sehr glücklich mit dem Ergebnis. Ich fühle mich glücklicher und leichter.“

 

Sie berichtet, dass sie auch kaum noch Stimmungsschwankungen habe und auch an ihrer Arbeitsstelle belastbarer geworden ist. Sie kann Herausforderungen wieder annehmen, obwohl die Arbeitslast deutlich gestiegen ist und sie vielleicht mit einer Entlassung rechnen muss. Die Patientin erzählt: „ Früher hätte mich die ganze Situation sehr belastet, es hätte mich depressiv gemacht. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich fühle mich ganz normal. Ich nehme es relativ gelassen.“

 

Sie erwähnt, dass es noch ein paar kleinere Beschwerden gibt, die sie gerne klären möchte, z.B. Obstipation und schießende Kopfschmerzen, die sie von Zeit zu Zeit plagen. Allgemein hat sie deutlich mehr Energie als früher und auch ihre Essgewohnheiten haben sich verbessert. Sie sagt, dass sie früher oft Blähungen hatte, die nach Einnahme des Mittels verschwanden.

 

Verschreibung: Sac lac, einen Monat lang zweimal täglich.

 

Follow-up am 05.07.2013

Der Menstruationszyklus der Patientin ist jetzt regelmäßig. Ihre seelische Verfassung beschreibt sie als ausgeglichen und zufrieden. Sie sagt, sie fühle sich leicht und unbefangen und habe mehr Energie. Sie ist aktiver geworden.

 

Seit Kurzem ist sie verlobt und wird bald heiraten.

 

Gelegentlich leidet sie noch unter Verstopfung und hat eine sehr leichte Akne.

 

Verschreibung: Sac lac

 

Der nächste Termin der Patientin war am 21.01.2013. Es geht ihr gut und ihr Gesundheitszustand macht weiterhin Fortschritte.

 

Verschreibung: Sac lac, einen Monat lang zweimal täglich.

 

Follow-up am 06.06.2013

Der Patientin geht es insgesamt viel besser. Ihr Menstruationszyklus ist weiterhin regelmäßig, auch die Schilddrüsenfunktion bleibt stabil. Sie hat keine Depressionen. Ihre Stimmung ist gut, der Energiepegel auch.

 

Die Verlobung der Patientin wurde gelöst, sie konnte sehr gut mit der Situation umgehen.

 

Sie hatte einen Traum, in dem sie alleine war und sich verirrt hatte (bestätigt nochmals das Miasma der Patientin).

 

Kommentar

Fast hätte ich das richtige Arzneimittel nicht gefunden. Den entscheidenden Hinweis gab mir das Gefühl der Schwere und Trägheit (mit dem Gegenteil offen, frei, groß) von dem die Patientin berichtete. Das ist die grundlegende Empfindung der Hamamelidae. Dieser Fall ist sehr lehrreich gewesen und veranschaulicht einen kritischen Aspekt der homöopathischen Verschreibung: Wenn Sie das System eines Patienten verstanden haben und während der Fallbearbeitung auf eine bestimmte Familie stoßen, die den Symptomen und dem System des Patienten entspricht, dann ist es sehr wichtig, alle Pflanzen dieser Familie zu studieren. Denn nur so können Sie die eigentümlichen – also differenzierenden - Symptome des Falles wirklich finden. Im vorliegenden Fallbeispiel sind die eigentümlichen Symptome folgende: Traum vom Verirren, vom Verloren-sein; vom Allein-sein; Gleichgültigkeit gegenüber Familienmitgliedern; das Gefühl der Patientin, in der Beziehung zu ihrem Vater festzustecken und nicht weiterzukommen, bis diese Probleme gelöst waren.

 

  1. Sankaran, Rajan: „Tabelle der Pflanzenempfindungen“, Sankarans Tabellen, Auflage 2006, Homeopathic Mediacl Publishers, Indien

 

Dieses Fallbeispiel wurde ursprünglich unter http://theothersong.wordpress.com/ im Newsletter ‚Voice‘ veröffentlicht.

 

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: Hypothyreose, polyzystische Ovarien, Depression, Lethargie, verloren, feststecken, komprimiert, ersticken





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