Immer, wenn ich etwas anfasse, habe ich Schmerzen: ein Fall von Taraxacum

von Dinesh Chauhan, Pallavi Nar, Devang Shah

 

Die Hauptbeschwerden des 4-jährigen Patienten sind rezidivierende Erkältungen, Schnupfen, Magenschmerzen und Karies an den Zähnen.

 

Der kleine Junge kommt in Begleitung seiner Mutter und Großmutter in die Sprechstunde. Als seine Mutter beginnt, von den Beschwerden ihres Sohnes zu erzählen, unterbricht dieser sie und sagt: “Mama, lass mich erzählen, ich möchte das erzählen.“ Also übergeben wir das Wort an unseren kleinen Patienten.

 

Er berichtet uns, dass er jeden Tag Magenschmerzen hat. Er hat immer Bauchschmerzen, egal, ob er sich zu Hause aufhält oder draußen ist. Er erzählt uns mehrmals, dass viele Stellen an seinem Körper wehtun. Immer, wenn er über seine Schmerzen spricht, macht er eine Geste mit seiner Hand, als wolle er irgendwo draufschlagen. Diese Geste wiederholt er mindestens 6 – 7 Mal.

 

Er berichtet uns auch, dass er morgens beim Aufwachen immer Kopfschmerzen hat und dass er Schmerzen bekommt, wenn er jemanden berührt. Er beschreibt lebhaft, wie sehr es ihm wehtut, wenn er etwas oder jemanden anfasst. Das ist interessant – eigentlich kommt dieser Junge wegen Erkältung und Schnupfen zu uns, aber beim Zuhören wird ein ganz anderes Problem deutlich: Berührungen sind schmerzhaft; immer, wenn der kleine Junge etwas berührt, löst es Schmerzen aus!


Er ist ein sehr ausdrucksstarker Junge und redet unaufhörlich. Er erzählt, dass er oft so viel redet, dass es ihm wehtut! Und er redet die ganze Zeit, bis zum Ende der Anamnese.

 

Wir befragen ihn weiter und bald erzählt er uns, dass er einmal seinen Stoffpinguin anfasste und davon Schmerzen bekam. Dann berichtet er von einem Monster, das ihn nachts besuchen kommt – er berührt das Monster und schlägt auf es ein bis es wehtut. An diesem Punkt war die Redseligkeit des Jungen nicht mehr zu übersehen. Dann erzählte er uns, er hätte Würmer im Bauch, die kleine Steine in die Richtung seines Halses werfen. Er sagt, sein ganzer Körper tue ihm weh und schlägt dabei auf den Tisch. Danach erzählt er uns, er, sein Papa und seine Mama würden schrumpfen und er würde aus dem Bett fallen und sich mit Calendula einreiben.

 

Dann wechselt er das Thema und erzählt uns, dass es auch wehtut, wenn er von einem Räuber geschlagen wird. Er erzählt, dass alle ihn ständig hier und da schlagen würden. Als er vom Schlagen und Geschlagen-werden erzählt, wiederholt er immer wieder die gleiche Geste, er schlägt auf etwas ein. Hier bringt er seine Geschichte in Verbindung mit seiner Hauptbeschwerde, den Magenschmerzen: Der Junge berichtet, dass er Magenschmerzen bekommt, wenn er von einem Räuber geschlagen wird. An diesem Punkt der Fallaufnahme verknüpft der kleine Patient also eine seiner Hauptbeschwerden mit Schlagen, Verletzung und Schmerzen. Außerdem ist hier wieder eine Redseligkeit zu erkennen, die sich durch den gesamten Fall zieht. Der Junge berichtet auch, dass ihm sogar beim Reden der Mund schmerzt. Auch das Sprechen steht also in Verbindung mit Schmerz.

 

Dann erzählt er weiter, dass er Schmerzen hat, wenn er ins Wasser geht, einen Computer benutzt oder Fotos oder Draht anfasst. Auch hier bringt er Berührung mit Schmerz in Verbindung. Er redet darüber, dass er auf einen Berg steigt und Steine herunter wirft – auch das tut ihm weh. Dann beschreibt er die Schmerzen, er sagt, es fühle sich eng an, wie Götterspeise, die hart geworden ist; sein Bauch und seine Beine werden hart. Es tut genauso weh, wie wenn er von einem Räuber geschlagen wird (an dieser Stelle macht er wieder die Geste des Schlagens). Dann erzählt der Junge, er hätte einen Jäger und der Jäger schlägt den Räuber. Danach berichtet er uns, der Räuber habe ein Schwert, aber sein Schwert sei schärfer als das des Räubers. Wieder beschreibt er das Monster, das ihn heimsucht – er bewirft es mit Steinen und das Monster blutet. Anschließend erzählt er wieder, dass er Würmer im Hals habe, die mit Steinen werfen und sein Hals deshalb anschwelle. Außerdem werfen die Würmer Steine an seine Zähne und das sei der Grund, warum einer seiner Zähne kaputt sei – hier schlägt der Junge einen Bogen zu seiner dritten Hauptbeschwerde, der Karies.

 

Dann redet er wieder über völlig andere Themen: Er sei in einen Aufzug gestiegen, dabei hingefallen und habe sich das Knie blutig aufgeschlagen. Dann beschreibt er, wie er eine Glühbirne anfasst und sich dabei verbrennt. Als er uns davon erzählt, schlägt er sich auf die Beine.

 

Der Junge träumt von Gespenstern und Monstern, die ihn heimsuchen und Feuer legen, an dem er sich verbrennt. Wenn die Monster ihn berühren, tut es ihm weh. Er fürchtet sich vor Skeletten und vor Feuer, er hat Angst, dass er sich verbrennen könnte.

 

Seine Mutter berichtet, dass er sich nicht gerne berühren lässt. Schon als 4 Monate altes Baby habe er nach seiner Großmutter getreten, als sie ihn in eine Decke einwickeln wollte. Ihr Sohn weine auch nicht, wenn er hinfällt. Er stehe einfach wieder auf und sagt: „Ich bin stark.“

 

Analyse und Fallverständnis

Wir haben es hier mit einem außerordentlich redefreudigen Kind zu tun. Die Offenheit des Jungen gab uns die Gelegenheit, ihn völlig ungestört in einer unbeschwerten, vorurteilsfreien Umgebung anzuhören.

 

Am auffälligsten ist das Verhalten des Jungen. Von Anfang an besteht der Junge darauf, seine Geschichte selbst erzählen zu dürfen. In Indien ist das sehr ungewöhnlich. Die meisten Kinder in seinem Alter lassen ihre Eltern erzählen, sie selbst sitzen einfach nur da, halten sich an ihren Eltern fest und hören zu. Nicht so dieser Junge – er wollte alles alleine erzählen und so schickten wir seine Mutter in das Wartezimmer, um mit ihm ungestört reden zu können.

 

Der Junge konnte sein Anliegen frei vortragen. Fast eine Stunde lang erzählte er von sich ohne Unterbrechung, Fragen mussten wir kaum stellen. Sein Rededrang war nicht zu übersehen, es ist ein wichtiger Teil seiner Persönlichkeit. Nun ist es wirklich sehr, sehr ungewöhnlich, wenn ein 4-jähriges Kind sich so lange und ohne Begleitung eines Erwachsenen mit dem Arzt unterhält. Was das Verhalten des Jungen noch erstaunlicher machte, war die Art und Weise, wie er sprach. Er erzählte kurzweilig und angenehm, in keinem Moment fühlte man sich gelangweilt oder irritiert. Er war ein sehr fröhlicher Junge, mit dem man gerne seine Zeit verbringt.

 

Auch seine Art, über seine Beschwerden zu sprechen, ist signifikant. Die Hauptbeschwerden des Jungen sind Magenschmerzen und rezidivierende Erkältungen. Das Schlimmste für ihn sind die Magenschmerzen. Seine Beschreibung der Magenschmerzen ist sehr eigentümlich – er sagt, dass es ihm wehtut, wenn er etwas berührt. Nicht nur sein Bauch tut weh, sondern sein ganzes Wesen ist so sehr von diesen Schmerzen eingenommen, dass alles, was er berührt, ihm Schmerzen bereitet. Egal, was es ist, der Fernseher, die Fernbedienung, ein Stift, ein Blatt Papier – all diese Dinge sind schmerzhaft für ihn. Das ist natürlich völlig absurd! Man kann dieses Empfinden nicht logisch nachvollziehen, es ist kompletter Unsinn.

 

Als wir tiefer in den Fall eindringen, erzählt uns der Junge eine Fantasiegeschichte von einem Monster, das ihm wehtut und ihn verletzt, dass es blutet. Außerdem erzählt er uns von Würmern, die in seinem Hals sitzen und mit Steinen werfen. Der Junge lebt in einer Fantasiewelt, die absolut keinen Sinn ergibt.

 

An diesem Punkt hatten wir schon eine Stunde lang mit unserem kleinen Patienten gesprochen und konnten nun das Muster hinter seinen Beschwerden erkennen: Seine Beschwerden und seine fantastischen Erzählungen haben alle etwas mit Schmerzempfindlichkeit zu tun. Alles, was er berührt, löst Schmerzen aus.

 

Diese Schmerzempfindlichkeit ist der auffälligste, einzigartige und besondere Aspekt seiner Persönlichkeit, zusammen mit einer unbeschwerten und fröhlichen Redseligkeit. Als nächstes müssen wir die Beschaffenheit dieser Schmerzempfindlichkeit verstehen. Es wird uns zu dem richtigen Naturreich und der entsprechenden Abteilung - und somit zum Mittel – führen.

 

Im zweiten Teil der Fallaufnahme konzentrieren wir uns auf die Empfindung hinter diesen Schmerzen. An dieser Stelle wird uns der Junge eine genaue Beschreibung geben. Als wir ihn nach den Schmerzen fragen, liefert er uns verschiedene Bilder: mit einem großen Stein geschlagen werden; ein Jäger; ein Schwert; ein Sturz; von einem Räuber geschlagen werden; eine Glühbirne anfassen und sich verbrennen. Diese sehr unterschiedlichen Bilder haben eins gemeinsam: der Junge erfährt eine Verletzung. Wir befinden uns auf der tiefsten Ebene seines Erlebens – seine Empfindung. Das dominante Thema, welches sich durch seine Ängste, Wahnideen und Hauptbeschwerden zieht ist das des ‚Verletzt-werdens‘.

 

Der Junge erzählte uns auch ganz spontan von einer weiteren Wahnidee, nämlich von seinen Träumen. In seinen Träumen war er hauptsächlich mit Gespenstern beschäftigt, die etwas in Brand stecken könnten. Auch das ist für einen 4-jährigen Jungen sehr ungewöhnlich. In diesem Alter fürchten sich die Kinder vor einem Gespenst an sich. Dieser kleine Junge macht sich jedoch Gedanken darüber, dass das Gespenst Feuer legen könnte. Hier wird das grundlegende Muster des Falles bestätigt: die Furcht vor Verletzung oder Verbrennung. Sie zieht sich durch alle Bereiche – die Magenschmerzen, die Fantasien, die Ängste und die Träume des Jungen. Das Hauptthema, das sich sowohl auf seine körperlichen Beschwerden als auch auf seine geistige Verfassung bezieht ist das Thema Verletzung.

 

Der Schnittpunkt, an dem Körper (körperliche Beschwerden) und Geist (Ängste, Träume und Fantasien) aufeinandertreffen und übereinstimmen, nennen wir die Vitale Empfindung. Wenn wir ein bestimmtes Muster erkennen können, welches sich durch die körperlichen Symptome und die geistigen Aspekte eines Menschen zieht, dann haben wir die Vitale Empfindung vor Augen.

 

Sie alle kennen - zum Beispiel - das Mittel Bryonia. Bei Bryonia haben wir auf der körperlichen Ebene eine Verschlimmerung durch Bewegung, die sich auf der geistigen Ebene als Abneigung gegen Störungen widerspiegelt. Wenn man diese beiden Aspekte näher betrachtet, dann fällt einem auf, dass es sich bei beiden Symptomen um eine Empfindlichkeit gegen Störungen handelt. Dieser gemeinsame Aspekt von Körper und Geist zeigt uns, dass es sich bei dieser Empfindlichkeit gegen Störungen um die Vitale Empfindung von Bryonia handelt. Die Ebene der Vitalen Empfindung geht über die körperliche und geistige Ebene hinaus, sie durchdringt die Ebene der Gefühle und der Ereignisse; sie ist die Schnittstelle des geistigen und körperlichen Erlebens.

 

Ähnlich verhält es sich in diesem Fall: wir können erkennen, dass Hauptbeschwerde und geistige Verfassung des Jungen über die Sprache der ‚Schmerzen durch Verletzung‘ zum Ausdruck kommen. In diesem Fall entsprechen die ‚Schmerzen durch Verletzung‘ der Vitalen Empfindung des Patienten.

 

Grundsätzlich kann die Vitale Empfindung einem der drei Naturreiche zugeordnet werden, dem Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich. Jedes Naturreich hat dabei seine eigenen charakteristischen Empfindungsmerkmale.

 

Eine Vitale Empfindung, die dem Mineralreich entspricht, hat viel mit Struktur zu tun. Der Patient hat ein Gefühl der Unzulänglichkeit – er glaubt, es fehle ihm etwas oder er würde etwas oder sich selbst verlieren. Ein Mensch, der im Mineralreich zuhause ist, sieht Probleme als etwas, das in ihm selbst verankert ist – entweder als Mangel oder potentiellen Verlust. „Ich habe Angst, mein Vermögen zu verlieren“ oder „Ich könnte meine Stimme verlieren“ sind typische Äußerungen des Mineralreichs. (Bitte beachten Sie, dass man die Vitale Empfindung eines Menschen nicht an ein oder zwei Äußerungen fest machen kann; die Empfindung muss sich durch alle Aspekte seines Lebens ziehen.) In einem Fall, der dem Mineralreich zuzuordnen ist, muss das eine Phänomen, das sich durch die Geschichte eines Patienten zieht – also die Vitale Empfindung – etwas mit „Mir fehlt etwas“ oder „Ich werde etwas verlieren“ zu tun haben.

 

Bei einer Vitalen Empfindung aus dem Tierreich geht es um Überleben. Der Patient trägt das Thema „Ich oder Du“ in sich. Bei seinen Problemen geht es darum, dass „Jemand mir etwas antut“, das Problem wird also personifiziert, jemand greift an oder geht in Konkurrenz. Typische Äußerungen sind z. B. „Diese Schmerzen bringen mich um“ oder „Meine Schwiegermutter ist stärker als ich; ich bin der Schwächere“. Das Muster im Leben des Patienten ist geprägt durch die Empfindung „Ich oder Du“, Opfer gegen Angreifer, Stärke gegen Schwäche.

 

Eine Vitale Empfindung aus dem Pflanzenreich konzentriert sich ganz auf Empfindlichkeit und Sensibilität. Sensibilität bedeutet, dass ein großes Maß an Reiz-und Schmerzempfindlichkeit vorhanden ist, die den Menschen auf etwas reagieren lässt. Eine Frau erzählt zum Beispiel, dass sie es „nicht ertragen kann, wenn mein Mann herumschreit.“ Es wird deutlich, dass sie nicht ihren Ehemann als solches in Frage stellt, sondern empfindlich auf eine Charaktereigenschaft oder eine Verhaltensweise ihres Mannes reagiert. Sie ist sensibilisiert gegen und reagiert auf das Schreien ihres Mannes.

Das Pflanzenreich definiert sich über Reiz und Reaktion. Die Reaktionsbereitschaft ist dabei auf eine starke Empfindlichkeit des betroffenen Menschen zurückzuführen.

 

Im Fall des kleinen Patienten können wir sehen, dass der Junge immer Schmerzen hat, wenn er etwas anfasst. Das ist eine typische Pflanzen-Sensibilität. Das Kind reagiert empfindlich auf das, was um ihn herum geschieht und reagiert umgehend darauf. Jede Berührung löst bei ihm sofort eine Reaktion aus. Dieses gesteigerte Reaktionsvermögen ist ein Charakteristikum des Pflanzenreichs. Die Vitale Empfindung in unserem Fall ist die des ‚Verletzt-werdens‘ und die Reaktion darauf ist das Schlagen, also das Verletzen anderer.

 

Steht das Naturreich einmal fest, müssen wir herausfinden, welche Abteilung zu dem Patienten passt. Die Beschaffenheit des Schmerzes wird uns dafür wichtige Hinweise liefern.

 

Nehmen wir uns noch einmal die Bilder vor Augen, die uns der kleine Junge beschrieben hat: Schmerzen, als würde er mit einem Stein geschlagen; ein Jäger; ein Schwert; abstürzen; von einem Räuber geschlagen werden; sich an einer Glühbirne verbrennen. Dazu kommen noch sein Erleben des Schmerzes – ‚hart und geschwollen, wie feste Götterspeise‘ – und die Verschlimmerung durch Berührung. Diese Empfindung des ‚Verletzt-werdens‘ und die stark ausgeprägte Berührungsempfindlichkeit finden wir vor allem in der Familie der Compositae (Korbblütler).

 

Wir müssen also ein Mittel aus der Familie der Compositae finden, in dem die Redseligkeit stark hervorsticht. Der Rededrang des kleinen Jungen war nicht zu übersehen, es eine starke Charaktereigenschaft, die man auch bei objektiver Betrachtung deutlich erkennt. Der Junge erzählte nonstop und eine Stunde lang seine Geschichte! Außerdem ist seine Redefreudigkeit in keiner Weise aufdringlich, er ist ein fröhlicher und angenehmer Junge.

 

Das Arzneimittel muss also eine unbeschwerte Redseligkeit besitzen und das Hauptthema der Korbblütler – die Verletzung – aufgreifen. Wir recherchierten alle in Frage kommenden Pflanzen sehr gründlich und stießen bei Taraxacum (dem Löwenzahn) auf folgende Beschreibung:

 

In Allens ‚Encyclopedia‘ (T.F. Allen; nur auf Englisch erhältlich; A. d. Ü.) finden wir unter ‚Allgemeines‘: „Innerlich ein starkes Gefühl von Unwohlsein, alle Gliedmaßen schmerzen bei Berührung oder wenn in einer unbequemen Lage.“

 

Aus Hahnemanns ‚Reine Arzneimittellehre‘: „Sehr zum Lachen geneigt; Redeseeligkeit und UNAUFHALTBARE SCHWATZHAFTIGKEIT…
Religiöser, GETROSTER MUTH, FRÖHLICHKEIT, Zufriedenheit mit sich selbst und seiner Lage.“

In Lippes ‚Keynotes‘: Schmerzhaftigkeit aller Glieder bei Berührung. In Phataks ‚Materia Medica‘: „Sehr zum Schwatzen, Lachen und Fröhlichsein aufgelegt.“

 

Verschreibung: Wir entschieden uns für das Mittel Taraxacum. Das Erleben des Jungen bewegt sich auf der Ebene der Wahnideen, also bekam er die Potenz 1M.

 

Kommentar: Im vorliegenden Fall war das Miasma nicht eindeutig zu erkennen. Man sollte sich bei der Wahl eines Arzneimittels nicht allzu sehr irritieren lassen, wenn man das entsprechende Miasma nicht gefunden hat. Man muss sich immer auf das Eigentümliche, die Besonderheiten des Falles, konzentrieren. In unserem Fall stach die unbeschwerte Redefreudigkeit des kleinen Patienten hervor, begleitet von dem Thema der Verletzung. Die Empfindungsmethode führte uns direkt in das Pflanzenreich und zur botanischen Familie der Compositae. Das richtige Mittel hätten wir jedoch nicht mit der Empfindungsmethode allein finden können, wir mussten das gründliche Studium der Materia Medica hinzuziehen, um die angezeigte Pflanze ausfindig zu machen. Dieses Fallbeispiel ist ein wunderbares homöopathisches Lehrstück und zeigt uns, dass die Empfindungsmethode den klassischen homöopathischen Ansatz erfolgreich ergänzen kann und dessen Bedeutung in keiner Weise schmälert.

 

Follow-up nach 6 Monaten:

 

Arzt (A): Können Sie uns erzählen, welche Veränderungen Sie bei ihrem Sohn in den letzten Monaten bemerkt haben?

 

Großmutter (GM): Er ist ein wenig liebevoller geworden.

 

A: Liebevoller, was meinen Sie damit?

 

Mutter (M): Ich glaube, ich hatte Ihnen davon erzählt. Er ist von klein auf sehr, na ja, sehr wütend auf meinen Mann und meine Schwiegermutter gewesen. Einmal wollte er sie sogar schlagen, das habe ich aber sofort unterbunden, ich musste ihm eine Ohrfeige geben. Ich glaube, das habe ich Ihnen schon erzählt……

 

A: Ja, das stimmt….

 

M: Jetzt hat er das Problem nicht mehr.

 

A: Gut. Sonst noch etwas? Gibt es noch andere Veränderungen?

 

M: Er ist gewachsen.

 

A: (lacht)

 

M: Ich habe Ihnen auch schon erzählt, dass er sich jetzt besser konzentrieren kann.

 

A: Er kann sich besser konzentrieren?

 

M: Ja, er kann jetzt schon mal stillsitzen. Und Ihr Vorschlag, ihn zum Karate zu schicken, war auch sehr gut. Dort kann er sich austoben.

 

A: Schaut er jetzt weniger fern?

 

M: Nicht unbedingt. Aber wenn er jetzt von der Schule nach Hause kommt, setzt er sich eine Stunde vor den Fernseher und wenn ich ihm sage, er soll jetzt ausschalten, dann macht er das auch – ohne Theater. Vorher war das immer ein Riesentheater. Und manchmal geht er jetzt auch in ein anderes Zimmer, wenn ihm langweilig wird, und spielt dort mit seinen Spielsachen. Und noch etwas: er ist ordentlicher geworden… er räumt sogar manchmal nach dem Spielen auf.

 

Follow-up nach 1 Jahr:

Im ersten halben Jahr der Behandlung bekam der Junge eine Gabe Taraxacum 1M einmal im Monat, im zweiten Halbjahr insgesamt nur 2 Gaben.

 

Nach einem Jahr sind die Erkältungen zu fast 100% verschwunden, er war im ganzen Jahr nur zweimal krank gewesen. Die Magenschmerzen sind wie durch Zauberei verschwunden, der Junge hat sie seitdem nie mehr erwähnt.

 

Von größter Bedeutung ist vielleicht sein verändertes Verhalten: Der Junge ist umgänglicher und liebevoller geworden. Vorher hatte er sich weder bei seinem Vater noch bei seiner Großmutter wohl gefühlt. Jetzt ist er auch ihnen gegenüber sehr liebevoll. Er versucht nicht mehr, seine Großmutter zu schlagen. Außerdem hat sich sein Ordnungssinn verbessert, er lässt nicht mehr alles liegen und räumt seine Sachen weg. Er kann sich besser konzentrieren, ist nicht mehr so unruhig und schafft es nun stillzusitzen und eine Aufgabe zu Ende zu bringen.

 

Seine Empfindung des ‚Verletzt-seins‘ hat deutlich nachgelassen. Er kann Dinge berühren ohne dass es ihm Schmerzen bereitet. Seine heftigen Träume und Fantastereien haben nachgelassen. Auch sein Redeschwall hat abgenommen, er kann jetzt der Situation angemessen sprechen. Im Großen und Ganzen kann man auf jeder Ebene – körperlich, geistig, emotional und seelisch – deutliche Verbesserungen sehen.

 

Kommentar

Es war faszinierend zu beobachten, wie der kleine Junge im Laufe der homöopathischen Behandlung liebevolle Gefühle für seinen Vater und seine Großmutter entwickelte. Das macht die Homöopathie so einzigartig: Die energetische Wirkung der Arznei korrigiert den veränderten Zustand (das, was wir als ‚Das andere Lied‘ bezeichnen) des Patienten und stellt das ursprüngliche Lied des Menschen, also sein inneres ursprüngliches Muster, wieder her. Dieses ursprüngliche Lied dient der Liebe aller Menschen und der Menschheit als Ganzes.

 

Der vorliegende Fall zeigt uns auf wunderbare Art und Weise, wie ein Kind, dem eine freie und unvoreingenommene Umgebung gewährt wird, völlig ungehindert seine ganze Individualität entfalten kann. In diesem Fall musste ich fast gar nichts tun, sondern einfach nur da sein, Geduld haben und das Geschehen vor mir beobachten. Geleitet wurde ich von dem Vertrauen, dass alles, was der kleine Patient mir erzählte, an einem Punkt zusammenfließen würde. Meine Rolle war die eines Katalysators: alles, was der Patient brauchte, war ein geschützter Raum, in dem er sich selbst sein konnte – ohne Wertung und ohne Kritik, nur mit jemandem, der ihm zuhört und aufmerksam beobachtet. Es erinnert mich an einen Spruch von Lao Tzu: „Hast Du die Geduld zu warten, bis der Schlamm sich setzt und das Wasser klar ist?“ In diesem Fall drehte sich alles um das Warten und um das Zuhören: einem unschuldigen und fröhlichen Kind aufmerksam in seinen reinen, unverfälschten Ausdruckweisen zu folgen bis man das Gesagte bis auf die Quelle zurückführen konnte – sowohl über das Naturreich, die Abteilung, die entsprechende Gattung als auch über die Rubriken und das Studium der Materia Medica.

 

Fälle wie dieser bestärken mich immer wieder darin, einfach zu sein – offen sein, aufmerksam sein, Zeuge sein bis sich das Muster ganz von selbst offenbart.

 

Dieses Fallbeispiel wurde ursprünglich unter http://theothersong.wordpress.com/ im Newsletter ‚Voice‘ veröffentlicht.

 

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: Magenschmerzen, Schmerzempfindlichkeit, Furcht vor Verletzung, Frohnatur, Redseligkeit

Mittel: Taraxacum

Immer, wenn ich etwas anfasse, habe ich Schmerzen: ein Fall von Taraxacum

von Dinesh Chauhan, Pallavi Nar, Devang Shah

 

Die Hauptbeschwerden des 4-jährigen Patienten sind rezidivierende Erkältungen, Schnupfen, Magenschmerzen und Karies an den Zähnen.

 

Der kleine Junge kommt in Begleitung seiner Mutter und Großmutter in die Sprechstunde. Als seine Mutter beginnt, von den Beschwerden ihres Sohnes zu erzählen, unterbricht dieser sie und sagt: “Mama, lass mich erzählen, ich möchte das erzählen.“ Also übergeben wir das Wort an unseren kleinen Patienten.

 

Er berichtet uns, dass er jeden Tag Magenschmerzen hat. Er hat immer Bauchschmerzen, egal, ob er sich zu Hause aufhält oder draußen ist. Er erzählt uns mehrmals, dass viele Stellen an seinem Körper wehtun. Immer, wenn er über seine Schmerzen spricht, macht er eine Geste mit seiner Hand, als wolle er irgendwo draufschlagen. Diese Geste wiederholt er mindestens 6 – 7 Mal.

 

Er berichtet uns auch, dass er morgens beim Aufwachen immer Kopfschmerzen hat und dass er Schmerzen bekommt, wenn er jemanden berührt. Er beschreibt lebhaft, wie sehr es ihm wehtut, wenn er etwas oder jemanden anfasst. Das ist interessant – eigentlich kommt dieser Junge wegen Erkältung und Schnupfen zu uns, aber beim Zuhören wird ein ganz anderes Problem deutlich: Berührungen sind schmerzhaft; immer, wenn der kleine Junge etwas berührt, löst es Schmerzen aus!


Er ist ein sehr ausdrucksstarker Junge und redet unaufhörlich. Er erzählt, dass er oft so viel redet, dass es ihm wehtut! Und er redet die ganze Zeit, bis zum Ende der Anamnese.

 

Wir befragen ihn weiter und bald erzählt er uns, dass er einmal seinen Stoffpinguin anfasste und davon Schmerzen bekam. Dann berichtet er von einem Monster, das ihn nachts besuchen kommt – er berührt das Monster und schlägt auf es ein bis es wehtut. An diesem Punkt war die Redseligkeit des Jungen nicht mehr zu übersehen. Dann erzählte er uns, er hätte Würmer im Bauch, die kleine Steine in die Richtung seines Halses werfen. Er sagt, sein ganzer Körper tue ihm weh und schlägt dabei auf den Tisch. Danach erzählt er uns, er, sein Papa und seine Mama würden schrumpfen und er würde aus dem Bett fallen und sich mit Calendula einreiben.

 

Dann wechselt er das Thema und erzählt uns, dass es auch wehtut, wenn er von einem Räuber geschlagen wird. Er erzählt, dass alle ihn ständig hier und da schlagen würden. Als er vom Schlagen und Geschlagen-werden erzählt, wiederholt er immer wieder die gleiche Geste, er schlägt auf etwas ein. Hier bringt er seine Geschichte in Verbindung mit seiner Hauptbeschwerde, den Magenschmerzen: Der Junge berichtet, dass er Magenschmerzen bekommt, wenn er von einem Räuber geschlagen wird. An diesem Punkt der Fallaufnahme verknüpft der kleine Patient also eine seiner Hauptbeschwerden mit Schlagen, Verletzung und Schmerzen. Außerdem ist hier wieder eine Redseligkeit zu erkennen, die sich durch den gesamten Fall zieht. Der Junge berichtet auch, dass ihm sogar beim Reden der Mund schmerzt. Auch das Sprechen steht also in Verbindung mit Schmerz.

 

Dann erzählt er weiter, dass er Schmerzen hat, wenn er ins Wasser geht, einen Computer benutzt oder Fotos oder Draht anfasst. Auch hier bringt er Berührung mit Schmerz in Verbindung. Er redet darüber, dass er auf einen Berg steigt und Steine herunter wirft – auch das tut ihm weh. Dann beschreibt er die Schmerzen, er sagt, es fühle sich eng an, wie Götterspeise, die hart geworden ist; sein Bauch und seine Beine werden hart. Es tut genauso weh, wie wenn er von einem Räuber geschlagen wird (an dieser Stelle macht er wieder die Geste des Schlagens). Dann erzählt der Junge, er hätte einen Jäger und der Jäger schlägt den Räuber. Danach berichtet er uns, der Räuber habe ein Schwert, aber sein Schwert sei schärfer als das des Räubers. Wieder beschreibt er das Monster, das ihn heimsucht – er bewirft es mit Steinen und das Monster blutet. Anschließend erzählt er wieder, dass er Würmer im Hals habe, die mit Steinen werfen und sein Hals deshalb anschwelle. Außerdem werfen die Würmer Steine an seine Zähne und das sei der Grund, warum einer seiner Zähne kaputt sei – hier schlägt der Junge einen Bogen zu seiner dritten Hauptbeschwerde, der Karies.

 

Dann redet er wieder über völlig andere Themen: Er sei in einen Aufzug gestiegen, dabei hingefallen und habe sich das Knie blutig aufgeschlagen. Dann beschreibt er, wie er eine Glühbirne anfasst und sich dabei verbrennt. Als er uns davon erzählt, schlägt er sich auf die Beine.

 

Der Junge träumt von Gespenstern und Monstern, die ihn heimsuchen und Feuer legen, an dem er sich verbrennt. Wenn die Monster ihn berühren, tut es ihm weh. Er fürchtet sich vor Skeletten und vor Feuer, er hat Angst, dass er sich verbrennen könnte.

 

Seine Mutter berichtet, dass er sich nicht gerne berühren lässt. Schon als 4 Monate altes Baby habe er nach seiner Großmutter getreten, als sie ihn in eine Decke einwickeln wollte. Ihr Sohn weine auch nicht, wenn er hinfällt. Er stehe einfach wieder auf und sagt: „Ich bin stark.“

 

Analyse und Fallverständnis

Wir haben es hier mit einem außerordentlich redefreudigen Kind zu tun. Die Offenheit des Jungen gab uns die Gelegenheit, ihn völlig ungestört in einer unbeschwerten, vorurteilsfreien Umgebung anzuhören.

 

Am auffälligsten ist das Verhalten des Jungen. Von Anfang an besteht der Junge darauf, seine Geschichte selbst erzählen zu dürfen. In Indien ist das sehr ungewöhnlich. Die meisten Kinder in seinem Alter lassen ihre Eltern erzählen, sie selbst sitzen einfach nur da, halten sich an ihren Eltern fest und hören zu. Nicht so dieser Junge – er wollte alles alleine erzählen und so schickten wir seine Mutter in das Wartezimmer, um mit ihm ungestört reden zu können.

 

Der Junge konnte sein Anliegen frei vortragen. Fast eine Stunde lang erzählte er von sich ohne Unterbrechung, Fragen mussten wir kaum stellen. Sein Rededrang war nicht zu übersehen, es ist ein wichtiger Teil seiner Persönlichkeit. Nun ist es wirklich sehr, sehr ungewöhnlich, wenn ein 4-jähriges Kind sich so lange und ohne Begleitung eines Erwachsenen mit dem Arzt unterhält. Was das Verhalten des Jungen noch erstaunlicher machte, war die Art und Weise, wie er sprach. Er erzählte kurzweilig und angenehm, in keinem Moment fühlte man sich gelangweilt oder irritiert. Er war ein sehr fröhlicher Junge, mit dem man gerne seine Zeit verbringt.

 

Auch seine Art, über seine Beschwerden zu sprechen, ist signifikant. Die Hauptbeschwerden des Jungen sind Magenschmerzen und rezidivierende Erkältungen. Das Schlimmste für ihn sind die Magenschmerzen. Seine Beschreibung der Magenschmerzen ist sehr eigentümlich – er sagt, dass es ihm wehtut, wenn er etwas berührt. Nicht nur sein Bauch tut weh, sondern sein ganzes Wesen ist so sehr von diesen Schmerzen eingenommen, dass alles, was er berührt, ihm Schmerzen bereitet. Egal, was es ist, der Fernseher, die Fernbedienung, ein Stift, ein Blatt Papier – all diese Dinge sind schmerzhaft für ihn. Das ist natürlich völlig absurd! Man kann dieses Empfinden nicht logisch nachvollziehen, es ist kompletter Unsinn.

 

Als wir tiefer in den Fall eindringen, erzählt uns der Junge eine Fantasiegeschichte von einem Monster, das ihm wehtut und ihn verletzt, dass es blutet. Außerdem erzählt er uns von Würmern, die in seinem Hals sitzen und mit Steinen werfen. Der Junge lebt in einer Fantasiewelt, die absolut keinen Sinn ergibt.

 

An diesem Punkt hatten wir schon eine Stunde lang mit unserem kleinen Patienten gesprochen und konnten nun das Muster hinter seinen Beschwerden erkennen: Seine Beschwerden und seine fantastischen Erzählungen haben alle etwas mit Schmerzempfindlichkeit zu tun. Alles, was er berührt, löst Schmerzen aus.

 

Diese Schmerzempfindlichkeit ist der auffälligste, einzigartige und besondere Aspekt seiner Persönlichkeit, zusammen mit einer unbeschwerten und fröhlichen Redseligkeit. Als nächstes müssen wir die Beschaffenheit dieser Schmerzempfindlichkeit verstehen. Es wird uns zu dem richtigen Naturreich und der entsprechenden Abteilung - und somit zum Mittel – führen.

 

Im zweiten Teil der Fallaufnahme konzentrieren wir uns auf die Empfindung hinter diesen Schmerzen. An dieser Stelle wird uns der Junge eine genaue Beschreibung geben. Als wir ihn nach den Schmerzen fragen, liefert er uns verschiedene Bilder: mit einem großen Stein geschlagen werden; ein Jäger; ein Schwert; ein Sturz; von einem Räuber geschlagen werden; eine Glühbirne anfassen und sich verbrennen. Diese sehr unterschiedlichen Bilder haben eins gemeinsam: der Junge erfährt eine Verletzung. Wir befinden uns auf der tiefsten Ebene seines Erlebens – seine Empfindung. Das dominante Thema, welches sich durch seine Ängste, Wahnideen und Hauptbeschwerden zieht ist das des ‚Verletzt-werdens‘.

 

Der Junge erzählte uns auch ganz spontan von einer weiteren Wahnidee, nämlich von seinen Träumen. In seinen Träumen war er hauptsächlich mit Gespenstern beschäftigt, die etwas in Brand stecken könnten. Auch das ist für einen 4-jährigen Jungen sehr ungewöhnlich. In diesem Alter fürchten sich die Kinder vor einem Gespenst an sich. Dieser kleine Junge macht sich jedoch Gedanken darüber, dass das Gespenst Feuer legen könnte. Hier wird das grundlegende Muster des Falles bestätigt: die Furcht vor Verletzung oder Verbrennung. Sie zieht sich durch alle Bereiche – die Magenschmerzen, die Fantasien, die Ängste und die Träume des Jungen. Das Hauptthema, das sich sowohl auf seine körperlichen Beschwerden als auch auf seine geistige Verfassung bezieht ist das Thema Verletzung.

 

Der Schnittpunkt, an dem Körper (körperliche Beschwerden) und Geist (Ängste, Träume und Fantasien) aufeinandertreffen und übereinstimmen, nennen wir die Vitale Empfindung. Wenn wir ein bestimmtes Muster erkennen können, welches sich durch die körperlichen Symptome und die geistigen Aspekte eines Menschen zieht, dann haben wir die Vitale Empfindung vor Augen.

 

Sie alle kennen - zum Beispiel - das Mittel Bryonia. Bei Bryonia haben wir auf der körperlichen Ebene eine Verschlimmerung durch Bewegung, die sich auf der geistigen Ebene als Abneigung gegen Störungen widerspiegelt. Wenn man diese beiden Aspekte näher betrachtet, dann fällt einem auf, dass es sich bei beiden Symptomen um eine Empfindlichkeit gegen Störungen handelt. Dieser gemeinsame Aspekt von Körper und Geist zeigt uns, dass es sich bei dieser Empfindlichkeit gegen Störungen um die Vitale Empfindung von Bryonia handelt. Die Ebene der Vitalen Empfindung geht über die körperliche und geistige Ebene hinaus, sie durchdringt die Ebene der Gefühle und der Ereignisse; sie ist die Schnittstelle des geistigen und körperlichen Erlebens.

 

Ähnlich verhält es sich in diesem Fall: wir können erkennen, dass Hauptbeschwerde und geistige Verfassung des Jungen über die Sprache der ‚Schmerzen durch Verletzung‘ zum Ausdruck kommen. In diesem Fall entsprechen die ‚Schmerzen durch Verletzung‘ der Vitalen Empfindung des Patienten.

 

Grundsätzlich kann die Vitale Empfindung einem der drei Naturreiche zugeordnet werden, dem Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich. Jedes Naturreich hat dabei seine eigenen charakteristischen Empfindungsmerkmale.

 

Eine Vitale Empfindung, die dem Mineralreich entspricht, hat viel mit Struktur zu tun. Der Patient hat ein Gefühl der Unzulänglichkeit – er glaubt, es fehle ihm etwas oder er würde etwas oder sich selbst verlieren. Ein Mensch, der im Mineralreich zuhause ist, sieht Probleme als etwas, das in ihm selbst verankert ist – entweder als Mangel oder potentiellen Verlust. „Ich habe Angst, mein Vermögen zu verlieren“ oder „Ich könnte meine Stimme verlieren“ sind typische Äußerungen des Mineralreichs. (Bitte beachten Sie, dass man die Vitale Empfindung eines Menschen nicht an ein oder zwei Äußerungen fest machen kann; die Empfindung muss sich durch alle Aspekte seines Lebens ziehen.) In einem Fall, der dem Mineralreich zuzuordnen ist, muss das eine Phänomen, das sich durch die Geschichte eines Patienten zieht – also die Vitale Empfindung – etwas mit „Mir fehlt etwas“ oder „Ich werde etwas verlieren“ zu tun haben.

 

Bei einer Vitalen Empfindung aus dem Tierreich geht es um Überleben. Der Patient trägt das Thema „Ich oder Du“ in sich. Bei seinen Problemen geht es darum, dass „Jemand mir etwas antut“, das Problem wird also personifiziert, jemand greift an oder geht in Konkurrenz. Typische Äußerungen sind z. B. „Diese Schmerzen bringen mich um“ oder „Meine Schwiegermutter ist stärker als ich; ich bin der Schwächere“. Das Muster im Leben des Patienten ist geprägt durch die Empfindung „Ich oder Du“, Opfer gegen Angreifer, Stärke gegen Schwäche.

 

Eine Vitale Empfindung aus dem Pflanzenreich konzentriert sich ganz auf Empfindlichkeit und Sensibilität. Sensibilität bedeutet, dass ein großes Maß an Reiz-und Schmerzempfindlichkeit vorhanden ist, die den Menschen auf etwas reagieren lässt. Eine Frau erzählt zum Beispiel, dass sie es „nicht ertragen kann, wenn mein Mann herumschreit.“ Es wird deutlich, dass sie nicht ihren Ehemann als solches in Frage stellt, sondern empfindlich auf eine Charaktereigenschaft oder eine Verhaltensweise ihres Mannes reagiert. Sie ist sensibilisiert gegen und reagiert auf das Schreien ihres Mannes.

Das Pflanzenreich definiert sich über Reiz und Reaktion. Die Reaktionsbereitschaft ist dabei auf eine starke Empfindlichkeit des betroffenen Menschen zurückzuführen.

 

Im Fall des kleinen Patienten können wir sehen, dass der Junge immer Schmerzen hat, wenn er etwas anfasst. Das ist eine typische Pflanzen-Sensibilität. Das Kind reagiert empfindlich auf das, was um ihn herum geschieht und reagiert umgehend darauf. Jede Berührung löst bei ihm sofort eine Reaktion aus. Dieses gesteigerte Reaktionsvermögen ist ein Charakteristikum des Pflanzenreichs. Die Vitale Empfindung in unserem Fall ist die des ‚Verletzt-werdens‘ und die Reaktion darauf ist das Schlagen, also das Verletzen anderer.

 

Steht das Naturreich einmal fest, müssen wir herausfinden, welche Abteilung zu dem Patienten passt. Die Beschaffenheit des Schmerzes wird uns dafür wichtige Hinweise liefern.

 

Nehmen wir uns noch einmal die Bilder vor Augen, die uns der kleine Junge beschrieben hat: Schmerzen, als würde er mit einem Stein geschlagen; ein Jäger; ein Schwert; abstürzen; von einem Räuber geschlagen werden; sich an einer Glühbirne verbrennen. Dazu kommen noch sein Erleben des Schmerzes – ‚hart und geschwollen, wie feste Götterspeise‘ – und die Verschlimmerung durch Berührung. Diese Empfindung des ‚Verletzt-werdens‘ und die stark ausgeprägte Berührungsempfindlichkeit finden wir vor allem in der Familie der Compositae (Korbblütler).

 

Wir müssen also ein Mittel aus der Familie der Compositae finden, in dem die Redseligkeit stark hervorsticht. Der Rededrang des kleinen Jungen war nicht zu übersehen, es eine starke Charaktereigenschaft, die man auch bei objektiver Betrachtung deutlich erkennt. Der Junge erzählte nonstop und eine Stunde lang seine Geschichte! Außerdem ist seine Redefreudigkeit in keiner Weise aufdringlich, er ist ein fröhlicher und angenehmer Junge.

 

Das Arzneimittel muss also eine unbeschwerte Redseligkeit besitzen und das Hauptthema der Korbblütler – die Verletzung – aufgreifen. Wir recherchierten alle in Frage kommenden Pflanzen sehr gründlich und stießen bei Taraxacum (dem Löwenzahn) auf folgende Beschreibung:

 

In Allens ‚Encyclopedia‘ (T.F. Allen; nur auf Englisch erhältlich; A. d. Ü.) finden wir unter ‚Allgemeines‘: „Innerlich ein starkes Gefühl von Unwohlsein, alle Gliedmaßen schmerzen bei Berührung oder wenn in einer unbequemen Lage.“

 

Aus Hahnemanns ‚Reine Arzneimittellehre‘: „Sehr zum Lachen geneigt; Redeseeligkeit und UNAUFHALTBARE SCHWATZHAFTIGKEIT…
Religiöser, GETROSTER MUTH, FRÖHLICHKEIT, Zufriedenheit mit sich selbst und seiner Lage.“

In Lippes ‚Keynotes‘: Schmerzhaftigkeit aller Glieder bei Berührung. In Phataks ‚Materia Medica‘: „Sehr zum Schwatzen, Lachen und Fröhlichsein aufgelegt.“

 

Verschreibung: Wir entschieden uns für das Mittel Taraxacum. Das Erleben des Jungen bewegt sich auf der Ebene der Wahnideen, also bekam er die Potenz 1M.

 

Kommentar: Im vorliegenden Fall war das Miasma nicht eindeutig zu erkennen. Man sollte sich bei der Wahl eines Arzneimittels nicht allzu sehr irritieren lassen, wenn man das entsprechende Miasma nicht gefunden hat. Man muss sich immer auf das Eigentümliche, die Besonderheiten des Falles, konzentrieren. In unserem Fall stach die unbeschwerte Redefreudigkeit des kleinen Patienten hervor, begleitet von dem Thema der Verletzung. Die Empfindungsmethode führte uns direkt in das Pflanzenreich und zur botanischen Familie der Compositae. Das richtige Mittel hätten wir jedoch nicht mit der Empfindungsmethode allein finden können, wir mussten das gründliche Studium der Materia Medica hinzuziehen, um die angezeigte Pflanze ausfindig zu machen. Dieses Fallbeispiel ist ein wunderbares homöopathisches Lehrstück und zeigt uns, dass die Empfindungsmethode den klassischen homöopathischen Ansatz erfolgreich ergänzen kann und dessen Bedeutung in keiner Weise schmälert.

 

Follow-up nach 6 Monaten:

 

Arzt (A): Können Sie uns erzählen, welche Veränderungen Sie bei ihrem Sohn in den letzten Monaten bemerkt haben?

 

Großmutter (GM): Er ist ein wenig liebevoller geworden.

 

A: Liebevoller, was meinen Sie damit?

 

Mutter (M): Ich glaube, ich hatte Ihnen davon erzählt. Er ist von klein auf sehr, na ja, sehr wütend auf meinen Mann und meine Schwiegermutter gewesen. Einmal wollte er sie sogar schlagen, das habe ich aber sofort unterbunden, ich musste ihm eine Ohrfeige geben. Ich glaube, das habe ich Ihnen schon erzählt……

 

A: Ja, das stimmt….

 

M: Jetzt hat er das Problem nicht mehr.

 

A: Gut. Sonst noch etwas? Gibt es noch andere Veränderungen?

 

M: Er ist gewachsen.

 

A: (lacht)

 

M: Ich habe Ihnen auch schon erzählt, dass er sich jetzt besser konzentrieren kann.

 

A: Er kann sich besser konzentrieren?

 

M: Ja, er kann jetzt schon mal stillsitzen. Und Ihr Vorschlag, ihn zum Karate zu schicken, war auch sehr gut. Dort kann er sich austoben.

 

A: Schaut er jetzt weniger fern?

 

M: Nicht unbedingt. Aber wenn er jetzt von der Schule nach Hause kommt, setzt er sich eine Stunde vor den Fernseher und wenn ich ihm sage, er soll jetzt ausschalten, dann macht er das auch – ohne Theater. Vorher war das immer ein Riesentheater. Und manchmal geht er jetzt auch in ein anderes Zimmer, wenn ihm langweilig wird, und spielt dort mit seinen Spielsachen. Und noch etwas: er ist ordentlicher geworden… er räumt sogar manchmal nach dem Spielen auf.

 

Follow-up nach 1 Jahr:

Im ersten halben Jahr der Behandlung bekam der Junge eine Gabe Taraxacum 1M einmal im Monat, im zweiten Halbjahr insgesamt nur 2 Gaben.

 

Nach einem Jahr sind die Erkältungen zu fast 100% verschwunden, er war im ganzen Jahr nur zweimal krank gewesen. Die Magenschmerzen sind wie durch Zauberei verschwunden, der Junge hat sie seitdem nie mehr erwähnt.

 

Von größter Bedeutung ist vielleicht sein verändertes Verhalten: Der Junge ist umgänglicher und liebevoller geworden. Vorher hatte er sich weder bei seinem Vater noch bei seiner Großmutter wohl gefühlt. Jetzt ist er auch ihnen gegenüber sehr liebevoll. Er versucht nicht mehr, seine Großmutter zu schlagen. Außerdem hat sich sein Ordnungssinn verbessert, er lässt nicht mehr alles liegen und räumt seine Sachen weg. Er kann sich besser konzentrieren, ist nicht mehr so unruhig und schafft es nun stillzusitzen und eine Aufgabe zu Ende zu bringen.

 

Seine Empfindung des ‚Verletzt-seins‘ hat deutlich nachgelassen. Er kann Dinge berühren ohne dass es ihm Schmerzen bereitet. Seine heftigen Träume und Fantastereien haben nachgelassen. Auch sein Redeschwall hat abgenommen, er kann jetzt der Situation angemessen sprechen. Im Großen und Ganzen kann man auf jeder Ebene – körperlich, geistig, emotional und seelisch – deutliche Verbesserungen sehen.

 

Kommentar

Es war faszinierend zu beobachten, wie der kleine Junge im Laufe der homöopathischen Behandlung liebevolle Gefühle für seinen Vater und seine Großmutter entwickelte. Das macht die Homöopathie so einzigartig: Die energetische Wirkung der Arznei korrigiert den veränderten Zustand (das, was wir als ‚Das andere Lied‘ bezeichnen) des Patienten und stellt das ursprüngliche Lied des Menschen, also sein inneres ursprüngliches Muster, wieder her. Dieses ursprüngliche Lied dient der Liebe aller Menschen und der Menschheit als Ganzes.

 

Der vorliegende Fall zeigt uns auf wunderbare Art und Weise, wie ein Kind, dem eine freie und unvoreingenommene Umgebung gewährt wird, völlig ungehindert seine ganze Individualität entfalten kann. In diesem Fall musste ich fast gar nichts tun, sondern einfach nur da sein, Geduld haben und das Geschehen vor mir beobachten. Geleitet wurde ich von dem Vertrauen, dass alles, was der kleine Patient mir erzählte, an einem Punkt zusammenfließen würde. Meine Rolle war die eines Katalysators: alles, was der Patient brauchte, war ein geschützter Raum, in dem er sich selbst sein konnte – ohne Wertung und ohne Kritik, nur mit jemandem, der ihm zuhört und aufmerksam beobachtet. Es erinnert mich an einen Spruch von Lao Tzu: „Hast Du die Geduld zu warten, bis der Schlamm sich setzt und das Wasser klar ist?“ In diesem Fall drehte sich alles um das Warten und um das Zuhören: einem unschuldigen und fröhlichen Kind aufmerksam in seinen reinen, unverfälschten Ausdruckweisen zu folgen bis man das Gesagte bis auf die Quelle zurückführen konnte – sowohl über das Naturreich, die Abteilung, die entsprechende Gattung als auch über die Rubriken und das Studium der Materia Medica.

 

Fälle wie dieser bestärken mich immer wieder darin, einfach zu sein – offen sein, aufmerksam sein, Zeuge sein bis sich das Muster ganz von selbst offenbart.

 

Dieses Fallbeispiel wurde ursprünglich unter http://theothersong.wordpress.com/ im Newsletter ‚Voice‘ veröffentlicht.

 

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: Magenschmerzen, Schmerzempfindlichkeit, Furcht vor Verletzung, Frohnatur, Redseligkeit

Mittel: Taraxacum





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