Von Geburt an sprachlos: ein Fall von Rana catesbeiana

Von Doug Brown

Im August 2012 wurde ich von einer Freundin amerikanisch- haitianischer Abstammung gebeten, ihren Sohn wegen seiner auffälligen Schüchternheit zu behandeln. Er schloss sich oft in sein Zimmer ein, Freunde hatte er keine. Billy (sein Name wurde geändert), so erzählte seine Mutter, weigerte sich zu sprechen.

Vor meinem ersten Gespräch mit Billy gab sie mir noch einige Hintergrundinformationen. Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft mit Billy war sie in einen schlimmen Autounfall verwickelt. Sie glaubt, dass „mein Schwiegervater mich auf dem Kieker hat; er wollte mich loswerden, damit mein Mann eine andere Frau heiraten kann.“ Während der Schwangerschaft nahm sie kaum an Gewicht zu und Billy wurde aufgrund einer Placenta praevia per Kaiserschnitt entbunden.

Als Säugling war Billy ständig hungrig. Er wurde ein knappes Jahr gestillt und aß alles, was man ihm anbot. Sein Fläschchen trank er immer gierig leer.

Ernsthafte Entwicklungsstörungen traten in Bezug auf seine Laut- und Sprachentwicklung auf. Im Alter von etwa zwei Jahren fing Billy an, sich „aufzuführen“, er schrie und hatte (Wut-)Anfälle. Man erklärte seiner Mutter, dass Billy nicht in der Lage war, seine Bedürfnisse zu artikulieren und er deshalb seinen Frust herauslassen musste. Wegen seiner Lernschwierigkeiten bekam Billy einen individuellen Förderplan.

Billy fiel es schwer, eine Beziehung zu anderen Kindern aufzubauen. Er wusste nicht, wie er mit ihnen kommunizieren sollte. Deshalb warf er entweder mit Dingen nach ihnen oder fing an zu weinen. Zusätzlich zu seinen Sprachproblemen konnte er nichts essen, ohne dass ihm die Speisen durch die Nase wieder hochkamen.

Auch beim Toilettentraining hatte es deutliche Entwicklungsverzögerungen gegeben. Billy war erst im Alter von 11 Jahren trocken geworden; seine Mutter glaubt, dass er Angst hat, sich selbst zu berühren.

Er schnarcht im Schlaf. Seine Mutter fügte noch hinzu, dass er sich vor Käfern, Ameisen, Bienen, Schmetterlingen, Kakerlaken und selbst den allerkleinsten Fliegen fürchtet.

Billy wurde mit einem verkürzten Zungenbändchen geboren und hatte 12 Monate vor unserem ersten Termin eine Frenotomie (Durchtrennung des Zungenbändchens). Mit seinen Lehrern in der Schule spricht er nur, wenn es absolut notwendig ist. Wenn er doch einmal redet, dann nur – so beschrieb es seine Mutter – sehr, sehr leise: „Ich muss ihn immer darum bitten, alles zu wiederholen, weil ich nicht verstehe, was er sagt.“ Dann erzählte sie eine Geschichte: “Billy und seine Schwester hatten vor ein paar Wochen gleichzeitig ihre neuen festen Zahnspangen eingesetzt bekommen. Zu Hause schrie seine Schwester vor Schmerzen. Sie war so laut und schrie unerträglich. Aber Billy hat keinen Ton gesagt. Auf meine Frage, ob es weh tut, sagte er nur ‚Nein‘ oder ‚ein wenig‘. Ein paar Tage später kam dann mein Mann nach Hause und schaute bei Billy nach. Da entdeckten wir, dass sein Zahnfleisch und die Wangen voller Geschwüre waren wegen der Zahnspange. Der Punkt ist, wenn wir nicht nachgeschaut hätten, hätte Billy uns nie erzählt, dass er Schmerzen hat.“

Ich fragte Billys Mutter nach seinem Verhältnis zu anderen Kindern. Sie berichtete, dass er bei seinen Klassenkameraden sehr beliebt sei, weil er „so ruhig“ ist. „Also, Billy erzählt mir gerne wer aus seiner Klasse mit wem zusammen ist… welcher Junge welches Mädchen gern hat… Aber er erzählt mir nie, wen er gut findet… Ich fände es schön, wenn Billy lächeln würde oder lernt, wie man andere grüßt, in der Schule oder auch allgemein. Ich fände es auch schön, wenn Billy anderen Menschen beim Sprechen in die Augen sehen könnte, eine Unterhaltung mit Freunden beginnen könnte, laut und selbstbewusst sprechen könnte und keine Angst haben müsste, dumm auszuschauen vor anderen Leuten. Schön wäre auch, wenn er beim Essen in der Schule am Tisch gerade sitzen könnte – er sieht immer aus, als würde er sich am liebsten unter dem Tisch verstecken.“

Billy möchte gerne an einem Sprach-Wettbewerb seiner Schule teilnehmen, kann aber noch nicht einmal richtig reden. „Ich musste ihn vom Wettbewerb abmelden.“

Seine Mutter erzählte weiter: „Billy ist jetzt seit zwei Jahren im Schulchor, hat aber noch kein einziges Mal den Mund aufgemacht, weder bei den Proben noch bei den Auftritten. Es ist so schlimm, dass sogar andere Eltern auf mich zukommen und fragen, ob mit Billy etwas nicht stimmt oder er sich im Chor nicht wohl fühlt. Dabei war es Billys ausdrücklicher Wunsch im Chor mitzusingen. Wenn ich ihm damit drohe, ihn vom Chor abzumelden, wird er traurig und fängt sofort an zu weinen.“

Billy hat ein starkes Verlangen nach Kaffee, mag aber keine Tomaten und sauer Eingelegtes. Durst hat er viel.

Das Gespräch mit Billy fand per Skype statt, was natürlich unter den gegebenen Umständen alles andere als ideal war. Meine Strategie war, dass ich so wenig wie möglich führen und einfach schauen wollte, was Billy von sich aus macht.

Erstanamnese am 09. August 2012

Billy erzählt: „Ich schreibe gern eigene Geschichten. Manchmal mag ich auch Videospiele und ich zeichne. Ich liebe meine Hunde. Manchmal, wenn ich Zeit habe, treffe ich mich gerne mit meinen Freunden. Ich spiele Klavier. Ich gehe. Ich habe in der Basketballmannschaft meiner Schule gespielt, also mag ich auch irgendwie Basketball. Ich kann auch gut Fußball spielen. Ich mag Kunst und spiele gern auf meinem Computer. Ich mag die Tribute von Panem. Es gibt auch diese Fernsehserie NCIS (über die Militärstrafverfolgungsbehörde der Marine). Ich rufe gern meine Freunde an, schreibe ihnen. Die Harry Potter Filme mag ich sehr. Mit meiner Schwester spiele ich gern Videospiele. Ich wäre gern Filmregisseur, ich würde gern Geschichten und Drehbücher schreiben. Manchmal fahre ich auch gerne Fahrrad. Und ich mag Motorräder. Ich schaue gern fern und gehe in die …..-Schule (eine private Schule). Ich mag diese Schule. Es ist cool dort. Ich habe viele Freunde. Ich spiele gern Völkerball mit meinen Freunden und Paintball. Ich lese gern Bücher und Comics. Ich fahre gern mit meiner Familie weg. Ich mag Komödien, Playstation 3.“

Doug Brown (DB): Gibt es etwas, was du nicht magst?

Billy (B): Wenn Leute sich streiten, oder Freunde sich streiten. Wenn die Hunde ein Loch graben und abhauen, dass ist schlimm für mich. Aber wir finden sie immer wieder. Wenn meine große Schwester Auto fährt. Ich hoffe immer, dass sie vorsichtig fährt, ich mache mir Sorgen um sie.

Als ich operiert wurde, das war unangenehm. Ich hatte nicht so viel Angst, nur ein bisschen Angst. Es hätte etwas schief gehen können. Aber es ist nichts schief gegangen.

DB: Was magst du am meisten an den ‚Tributen of Panem‘?

B: Nur einer überlebt. Ich mag die Action. Es fesselt die Zuschauer. Ich schwimme gerne mit den Manatis. Einmal bin ich fast ausgerastet, weil der Swimmingpool so endlos tief schien. Ich hätte ertrinken können. Als sich der Hund verletzt hat, habe ich mir Sorgen gemacht. Was hätte passieren können?

Ich träume von meinen Freunden. Von mir in einer Fernsehshow. Ich träume davon, dass ich alles machen kann. Ich träume von meinem besten Freund. Vielleicht kommt er nicht mehr wieder, ich weiß es nicht. Ich wäre dann traurig, aber es war ja seine Wahl. Ich werde nicht böse sein auf ihn. Ein wenig traurig schon. Er ist nicht mein einziger bester Freund.

Wenn du nett zu ihnen bist, dann sind sie auch nett zu dir. Sie sind lustig.

Wenn Freunde sich streiten, dann sage ich ihnen, dass sie sich einigen sollen. Es macht mir ein bisschen Angst. Was könnte als nächstes passieren?

DB: Erzähle mir von deiner Familie. Was macht ihr so?

B: Am schlimmsten ist es, wenn sich meine Schwestern streiten. Manchmal streite ich mich auch, aber nicht immer. Ich würde gerne mit Worten streiten können…

DB: Was ist für dich am schlimmsten?

B: Wenn ich mal laut rede, dann sagen die Leute ‚schhh‘. Einige meiner Freunde machen viel Ärger. Sie benehmen sich daneben. Wenn sie nachsitzen müssen, fliegen sie vielleicht von der Schule. Ich könnte einen Freund verlieren.

Fallverständnis

Billy erzählte mehr als ich erwartet hatte. Zwischen seinen Erzählungen legte er oft lange Pausen ein, aber durch geduldiges, erwartungsvolles Zuhören begann er immer wieder zu erzählen. Seine spontanen Berichte waren oft zusammenhangslos, was sein Verhalten etwas beliebig erscheinen ließ.

Nach der Anamnese verordnete ich Billy Magnesium iodatum 1M wegen seiner Verschlimmerung durch Streit, seiner Isolation und seines großen Appetits. Iodum als Halogen in Reihe 5 (Silberserie) würde seine Sprachprobleme abdecken. Rückblickend kann ich sagen, dass dieses Mittel viele Aspekte des Falls nicht abdeckt und auch meine Wahl des Symptoms ‚Beschwerden durch Streit‘ als zentrale Rubrik fraglich scheint.

16. Oktober 2012

Billy erzählt: Meine Schwester war in einem Autounfall. Ich musste schauen, ob es ihr gut geht. Zuerst war ich neugierig, ob sie verletzt war. Ein Typ hat sie ausgetrickst und wollte ihr Geld haben.

Nächsten Montag bekommen wir Zeugnisse. In Mathe hatte ich zuerst bessere Noten, dann schlechtere. Ich bekomme ein ‚C‘. Die Schule wird schwerer. Wenn ich die 6. Klasse nicht so gut schaffe, dann wird es in der 7. Klasse noch schwerer.

Ich bin frustriert. Lerne, wie ich damit umgehen kann. Ich bin neugierig auf das zweite Halbjahr. Ich liebe es, manchmal Klavier zu spielen. Ich habe jeden Mittwoch eine Klavierstunde. Da ist dieser Polizist mit dem Namen (Name nicht verständlich). Am Freitag gehen wir auf die Hochzeit meiner Tante. Ich werde einmal Regisseur oder gehe zur Luftwaffe.

Ich mag dieses Buch ‚Maximum Ride‘. Sieben Engelkinder, die auf Abenteuer gehen. Die Serie war ziemlich gut. Ich mag die ‚Avengers‘ auch. Jeder Superheld hat seinen eigenen Film. Es ist gut gemacht. Alle Schauspieler dazu zu bringen, ihre Rollen zu spielen.

DB: Erzähle mir etwas von der Luftwaffe?

B: Flugzeuge fliegen, Kampfflugzeuge fliegen. Leute hin und her transportieren. Den USA dienen. Ich lese gerade ‚Confessions of a Murder Suspect‘. Da wird jemand beschuldigt, obwohl er das Verbrechen nicht begangen hat.

DB: Erzähle mir von Situationen, die du gar nicht magst.

B: Wenn wir eine Klassenarbeit wieder bekommen. Und Zeugnisse. Wenn wir die Hunde rauslassen. Manchmal graben sie Löcher.

DB: Was stört dich an den Löchern?

B: Manchmal kommen dann Schlangen oder Frösche in den Hof.

DB: Erzähle mir etwas über Frösche.

B: Frösche sind unangenehm. (Zum ersten Mal wird Billy lebhaft). Sie können überall herumspringen. Die machen mich fertig! Sie sind widerlich. Meine Mutter hat einmal etwas gestreut, damit die Frösche alle sterben.

DB: Widerlich?

B: Sie übertragen Krankheiten. Du musst dir die Hände waschen.

DB: Haben Frösche auch etwas Gutes?

B: Sie fressen die Käfer.

DB: Kannst du mir einen deiner Träume erzählen?

B: Ein Hund konnte sprechen. Es war lustig. Ein Turm ist umgefallen. Ich stand oben drauf. Ich musste herunterspringen, oder so schnell wie möglich herunterklettern. Ich konnte mich retten, oder ich wäre zerquetscht worden.

DB: Was ist das widerlichste Tier der Welt?

B: Eine Eidechse. Die kriecht und windet sich. Wenn man den Schwanz abschneidet, bewegt sie sich immer noch. Eidechsen können neue Schwänze wachsen lassen. Niemand ist es gewohnt, dass Gliedmaßen, die abgeschnitten werden, sich immer noch bewegen.

DB: Was ist widerlicher? Eine Eidechse oder ein Frosch?

B: Frösche sind widerlicher. Eidechsen sind irgendwie cool.

Fallverständnis

In diesem Gespräch war die sprunghafte und beliebige Art und Weise seiner Sprache noch deutlicher zu erkennen. In den ersten Sätzen, als er von dem Autounfall seiner Schwester berichtete, kam eine Opfer-Angreifer-Thematik zum Vorschein: „Ein Typ hat sie ausgetrickst und wollte ihr Geld haben.“ Erinnern wir uns an die Geschichte der Mutter, die während der Schwangerschaft einen Autounfall erlebt hatte. Das Signifikante dabei ist, dass sie davon ausgeht, dass der Unfall von ihrem Schwiegervater instigiert wurde, weil er sie loshaben wollte.

In Anbetracht der Tatsache, dass Billys Hauptbeschwerde in seinen mangelnden Sprachfähigkeiten liegt, fragen Sie sich als Leser vielleicht, warum ich mich nicht weiter auf ein Mittel aus der fünften Reihe des Periodensystems, der Silberserie, konzentriert habe. Billys überraschende Redseligkeit während unseres Gespräch machte deutlich, dass das eigentliche Problem nicht seine mangelhafte Sprech- und Sprachfähigkeiten waren, sondern seine eigenen Gefühle in Bezug auf das Sprechen in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Wie er schon am Ende unserer Erstanamnese formulierte: „Wenn ich mal laut rede, dann sagen die Leute ‚schhh‘.“ „Einige meiner Freunde machen viel Ärger. Sie benehmen sich daneben. Wenn sie nicht nachsitzen müssen, fliegen sie vielleicht von der Schule. Ich könnte einen Freund verlieren.“

Billys intensive Angst und Reaktion auf Frösche war das herausragende, sonderbare und merkwürdige Symptom. Ich dachte über das natürliche Verhalten der Frösche nach: Es gibt dominante Männchen (sehr ausdrucksstark) und gleichzeitig auch passivere männliche Frösche, die in das Revier eines anderen Männchens eindringen, sich neben das dominante Männchen setzen und abwarten bis dieses seinen Platz räumt.

Dann betrachtete ich die Eigenheiten von Billys Sprache etwas näher. Er springt wirr umher, genauso, wie es Frösche als Teil ihrer Überlebensstrategie tun. Auch kam mir die Beschreibung seiner Mutter in den Sinn (er schottet sich ab) und vieles von dem, was er erzählte, entsprach einfach nicht der Wahrheit. Wir haben es hier also mit einer Täuschung zu tun, ein typisches Merkmal der Reptilien und wahrscheinlich auch der Amphibien. Das wurde sehr deutlich, als ich ihn fragte, welches Tier denn widerlicher sei – Eidechse oder Frosch. Er wollte fast reflexartig Eidechse sagen, entschied sich dann aber für Frösche. Auch seinen Traum vom sprechenden Hund deute ich als Hinweis auf das Tierreich und auf das Thema Sprache und ob es in Ordnung oder gar möglich ist, überhaupt zu sprechen.

Verschreibung: Da ich keine Apotheke finden konnte, die den Nordamerikanischen Ochsenfrosch als homöopathisch potenziertes Mittel herstellt, bat ich seine Mutter den Begriff Rana catesbeiana 1M auf ein Stück Papier zu schreiben und ein Glas Wasser daraufzustellen. Das Glas sollte mindestens eine Stunde lang stehen bleiben, damit der Kontakt zu dem geschriebenen Wort ausreichend wirken konnte. Anschließend sollte sie Billy einen Esslöffel von dem Wasser geben.

Follow ups

Zwei Wochen später: Billy scheint glücklicher zu sein. Er erzählte spontan und war nicht mehr so sprunghaft. Er erzählte mir von ein paar glücklichen Träumen, die er gehabt hatte. Seine Mutter berichtete, dass er verspielter geworden ist und auch Witze machen kann. Das Wichtigste ist aber, dass er sich nicht mehr so sehr abkapselt. Zur Überraschung seiner Familie hat er sogar auf einer Hochzeit getanzt. Seine Mutter beschreibt es als eine 180°-Wende.

Sechs Wochen später, 11. Dezember 2012: Wir treffen uns wieder bei Skype. Wieder schaut Billy sehr zufrieden aus. Als ich ihn fragte, was ihn seit unserem letzten Gespräch am meisten belastet habe, erzählt von einem Vortrag, den er in seiner Klasse halten musste: „Ich war nervös, aber ich habe mich getraut. Ich habe es gut gemacht. Ich war erleichtert!“

„Würdest du dich immer noch als schüchtern beschreiben?“ frage ich ihn.

„Ich habe das ziemlich hinter mir gelassen“, antwortet Billy.

Ich sprach noch einmal mit seiner Mutter. Sie bestätigt mir, dass Billy große Fortschritte gemacht hat. Er wird manchmal noch launisch, aber es geht wieder vorbei. „Er hat sich viel mehr geöffnet, im Vergleich zu früher. Er ist geselliger geworden, offener und redet mehr.“ In einer Email schreibt sie: „In letzter Zeit freue ich mich sehr über Billys Fortschritte. Es ist, als hätte er den Schatten hinter sich gelassen. Er lacht jetzt auch frei heraus. Er macht Witze mit seinen Schwestern und ärgert sie manchmal auch, aber auf schöne Art und Weise. Im Moment ist es so, dass wir immer lachen müssen, wenn Billy etwas Lustiges sagt, weil wir es einfach nicht gewohnt sind, dass er überhaupt etwas sagt! Zusammen mit seinen Schwestern hat er heute den ganzen Nachmittag auf seinem Zimmer Popsongs gesungen, mit Freunden telefoniert und er freut sich sogar auf Weihnachten und auf seinen Geburtstag. Ich bin sehr optimistisch in Bezug auf seine Fortschritte.“

12. Februar 2013: „Ich rede viel und es fühlt sich gut an. Außerdem treffe ich mich jetzt mit Mädchen. Ich hatte zwei Träume. Im ersten Traum war ich in diesem Auto auf einer Brücke. Es war viel Verkehr. Ich hatte keine Kontrolle über mich und über das, was ich tue. Es war alles sehr verwirrt. Im zweiten Traum war ich mit meiner Klasse auf Zeltlager in der Nähe von einem Flughafen. Ich bin in dieses Gebäude gegangen um meine Tasche zu holen. Es war der gleiche Ort wie in dem anderen Traum. Aber dieses Mal hatte ich alles unter Kontrolle. Ich war ganz ruhig.“

DB: Wie geht es dir in Bezug auf Frösche?

B: Ich sehe sie nicht mehr so oft. Sie machen mir keine Angst mehr.

16 Februar 2015: Mehr als zwei Jahre nach der Behandlung schreibe ich eine kurze Email an Billys Mutter um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Sie schreibt: „Billy geht es ERSTAUNLICH gut. Vielen Dank für deine Unterstützung; du hast ihm sehr geholfen.“

Reflexionen über Rana catesbeiana

Soweit ich weiß, wurde das Mittel von mir verschrieben, bevor es Verreibungen oder Prüfungen dazu gab. Es ist interessant, diesen Fall mit den Ergebnissen der von Roland Günther durchgeführten Verreibung zu vergleichen. Das Thema Sexualität – ein wichtiges Thema in der Verreibung – war bei diesem Jungen auch präsent, aber eher versteckt. Das Alter des Patienten - er war erst 12 - muss hier natürlich berücksichtigt werden. Trotzdem erwähnte die Mutter spontan, dass Billy trotz seiner Verschlossenheit gerne von den Techtelmechteln in seiner Klasse erzählt. Im Anschluss an die Mittelgabe erzählt er dann auch freiheraus, dass er sich gerne mit Mädchen trifft.

Roland Günther beschreibt eine Schamlosigkeit, eine emotionale Kälte und ein Verlangen, in andere Menschen einzudringen ohne Empathie zu zeigen. Dieser Aspekt war in unserem Fall nicht offensichtlich, aber Billys Freude an Mordgeschichten, Anschlägen und seine fast klinische Neugierde in Bezug auf den Autounfall seiner Schwester lassen diese Charakterzüge vermuten. Der Begriff „neugierig“ wurde von ihm mehrere Male benutzt. In diesem Zusammenhang ist es interessant anzumerken, dass Frösche in den naturwissenschaftlichen Fächern (in Schulen bereits schon in den jüngeren Jahrgangsstufen) oft als Forschungsobjekte eingesetzt und seziert werden. Dabei wird der Frosch reglos gestellt und schließlich getötet, indem eine Nadel in den Hirnstamm eingeführt wird.

In einem weiteren Schriftwechsel mit Roland wurden weitere Gemeinsamkeiten zwischen seiner Verreibung und meinen Fallbeobachtungen deutlich: das Thema Eidechsen und Schlangen, sowie springende und hüpfende Bewegungen.

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Fotos

Shutterstock: Little boy reading under the cover; simona pilolla 2
Wikimedia Commons: Lithobates catesbeianus; Buchanan Bill; Public domain

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: exzessive Schüchternheit; Isolation; Sprachstörungen, Entwicklungsstörungen; Furcht vor Fröschen und Käfern; Ochsenfrosch

Mittel: Rana catesbeiana 

Originalartikel: Interhomeopathy.org

Von Geburt an sprachlos: ein Fall von Rana catesbeiana

Von Doug Brown

Im August 2012 wurde ich von einer Freundin amerikanisch- haitianischer Abstammung gebeten, ihren Sohn wegen seiner auffälligen Schüchternheit zu behandeln. Er schloss sich oft in sein Zimmer ein, Freunde hatte er keine. Billy (sein Name wurde geändert), so erzählte seine Mutter, weigerte sich zu sprechen.

Vor meinem ersten Gespräch mit Billy gab sie mir noch einige Hintergrundinformationen. Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft mit Billy war sie in einen schlimmen Autounfall verwickelt. Sie glaubt, dass „mein Schwiegervater mich auf dem Kieker hat; er wollte mich loswerden, damit mein Mann eine andere Frau heiraten kann.“ Während der Schwangerschaft nahm sie kaum an Gewicht zu und Billy wurde aufgrund einer Placenta praevia per Kaiserschnitt entbunden.

Als Säugling war Billy ständig hungrig. Er wurde ein knappes Jahr gestillt und aß alles, was man ihm anbot. Sein Fläschchen trank er immer gierig leer.

Ernsthafte Entwicklungsstörungen traten in Bezug auf seine Laut- und Sprachentwicklung auf. Im Alter von etwa zwei Jahren fing Billy an, sich „aufzuführen“, er schrie und hatte (Wut-)Anfälle. Man erklärte seiner Mutter, dass Billy nicht in der Lage war, seine Bedürfnisse zu artikulieren und er deshalb seinen Frust herauslassen musste. Wegen seiner Lernschwierigkeiten bekam Billy einen individuellen Förderplan.

Billy fiel es schwer, eine Beziehung zu anderen Kindern aufzubauen. Er wusste nicht, wie er mit ihnen kommunizieren sollte. Deshalb warf er entweder mit Dingen nach ihnen oder fing an zu weinen. Zusätzlich zu seinen Sprachproblemen konnte er nichts essen, ohne dass ihm die Speisen durch die Nase wieder hochkamen.

Auch beim Toilettentraining hatte es deutliche Entwicklungsverzögerungen gegeben. Billy war erst im Alter von 11 Jahren trocken geworden; seine Mutter glaubt, dass er Angst hat, sich selbst zu berühren.

Er schnarcht im Schlaf. Seine Mutter fügte noch hinzu, dass er sich vor Käfern, Ameisen, Bienen, Schmetterlingen, Kakerlaken und selbst den allerkleinsten Fliegen fürchtet.

Billy wurde mit einem verkürzten Zungenbändchen geboren und hatte 12 Monate vor unserem ersten Termin eine Frenotomie (Durchtrennung des Zungenbändchens). Mit seinen Lehrern in der Schule spricht er nur, wenn es absolut notwendig ist. Wenn er doch einmal redet, dann nur – so beschrieb es seine Mutter – sehr, sehr leise: „Ich muss ihn immer darum bitten, alles zu wiederholen, weil ich nicht verstehe, was er sagt.“ Dann erzählte sie eine Geschichte: “Billy und seine Schwester hatten vor ein paar Wochen gleichzeitig ihre neuen festen Zahnspangen eingesetzt bekommen. Zu Hause schrie seine Schwester vor Schmerzen. Sie war so laut und schrie unerträglich. Aber Billy hat keinen Ton gesagt. Auf meine Frage, ob es weh tut, sagte er nur ‚Nein‘ oder ‚ein wenig‘. Ein paar Tage später kam dann mein Mann nach Hause und schaute bei Billy nach. Da entdeckten wir, dass sein Zahnfleisch und die Wangen voller Geschwüre waren wegen der Zahnspange. Der Punkt ist, wenn wir nicht nachgeschaut hätten, hätte Billy uns nie erzählt, dass er Schmerzen hat.“

Ich fragte Billys Mutter nach seinem Verhältnis zu anderen Kindern. Sie berichtete, dass er bei seinen Klassenkameraden sehr beliebt sei, weil er „so ruhig“ ist. „Also, Billy erzählt mir gerne wer aus seiner Klasse mit wem zusammen ist… welcher Junge welches Mädchen gern hat… Aber er erzählt mir nie, wen er gut findet… Ich fände es schön, wenn Billy lächeln würde oder lernt, wie man andere grüßt, in der Schule oder auch allgemein. Ich fände es auch schön, wenn Billy anderen Menschen beim Sprechen in die Augen sehen könnte, eine Unterhaltung mit Freunden beginnen könnte, laut und selbstbewusst sprechen könnte und keine Angst haben müsste, dumm auszuschauen vor anderen Leuten. Schön wäre auch, wenn er beim Essen in der Schule am Tisch gerade sitzen könnte – er sieht immer aus, als würde er sich am liebsten unter dem Tisch verstecken.“

Billy möchte gerne an einem Sprach-Wettbewerb seiner Schule teilnehmen, kann aber noch nicht einmal richtig reden. „Ich musste ihn vom Wettbewerb abmelden.“

Seine Mutter erzählte weiter: „Billy ist jetzt seit zwei Jahren im Schulchor, hat aber noch kein einziges Mal den Mund aufgemacht, weder bei den Proben noch bei den Auftritten. Es ist so schlimm, dass sogar andere Eltern auf mich zukommen und fragen, ob mit Billy etwas nicht stimmt oder er sich im Chor nicht wohl fühlt. Dabei war es Billys ausdrücklicher Wunsch im Chor mitzusingen. Wenn ich ihm damit drohe, ihn vom Chor abzumelden, wird er traurig und fängt sofort an zu weinen.“

Billy hat ein starkes Verlangen nach Kaffee, mag aber keine Tomaten und sauer Eingelegtes. Durst hat er viel.

Das Gespräch mit Billy fand per Skype statt, was natürlich unter den gegebenen Umständen alles andere als ideal war. Meine Strategie war, dass ich so wenig wie möglich führen und einfach schauen wollte, was Billy von sich aus macht.

Erstanamnese am 09. August 2012

Billy erzählt: „Ich schreibe gern eigene Geschichten. Manchmal mag ich auch Videospiele und ich zeichne. Ich liebe meine Hunde. Manchmal, wenn ich Zeit habe, treffe ich mich gerne mit meinen Freunden. Ich spiele Klavier. Ich gehe. Ich habe in der Basketballmannschaft meiner Schule gespielt, also mag ich auch irgendwie Basketball. Ich kann auch gut Fußball spielen. Ich mag Kunst und spiele gern auf meinem Computer. Ich mag die Tribute von Panem. Es gibt auch diese Fernsehserie NCIS (über die Militärstrafverfolgungsbehörde der Marine). Ich rufe gern meine Freunde an, schreibe ihnen. Die Harry Potter Filme mag ich sehr. Mit meiner Schwester spiele ich gern Videospiele. Ich wäre gern Filmregisseur, ich würde gern Geschichten und Drehbücher schreiben. Manchmal fahre ich auch gerne Fahrrad. Und ich mag Motorräder. Ich schaue gern fern und gehe in die …..-Schule (eine private Schule). Ich mag diese Schule. Es ist cool dort. Ich habe viele Freunde. Ich spiele gern Völkerball mit meinen Freunden und Paintball. Ich lese gern Bücher und Comics. Ich fahre gern mit meiner Familie weg. Ich mag Komödien, Playstation 3.“

Doug Brown (DB): Gibt es etwas, was du nicht magst?

Billy (B): Wenn Leute sich streiten, oder Freunde sich streiten. Wenn die Hunde ein Loch graben und abhauen, dass ist schlimm für mich. Aber wir finden sie immer wieder. Wenn meine große Schwester Auto fährt. Ich hoffe immer, dass sie vorsichtig fährt, ich mache mir Sorgen um sie.

Als ich operiert wurde, das war unangenehm. Ich hatte nicht so viel Angst, nur ein bisschen Angst. Es hätte etwas schief gehen können. Aber es ist nichts schief gegangen.

DB: Was magst du am meisten an den ‚Tributen of Panem‘?

B: Nur einer überlebt. Ich mag die Action. Es fesselt die Zuschauer. Ich schwimme gerne mit den Manatis. Einmal bin ich fast ausgerastet, weil der Swimmingpool so endlos tief schien. Ich hätte ertrinken können. Als sich der Hund verletzt hat, habe ich mir Sorgen gemacht. Was hätte passieren können?

Ich träume von meinen Freunden. Von mir in einer Fernsehshow. Ich träume davon, dass ich alles machen kann. Ich träume von meinem besten Freund. Vielleicht kommt er nicht mehr wieder, ich weiß es nicht. Ich wäre dann traurig, aber es war ja seine Wahl. Ich werde nicht böse sein auf ihn. Ein wenig traurig schon. Er ist nicht mein einziger bester Freund.

Wenn du nett zu ihnen bist, dann sind sie auch nett zu dir. Sie sind lustig.

Wenn Freunde sich streiten, dann sage ich ihnen, dass sie sich einigen sollen. Es macht mir ein bisschen Angst. Was könnte als nächstes passieren?

DB: Erzähle mir von deiner Familie. Was macht ihr so?

B: Am schlimmsten ist es, wenn sich meine Schwestern streiten. Manchmal streite ich mich auch, aber nicht immer. Ich würde gerne mit Worten streiten können…

DB: Was ist für dich am schlimmsten?

B: Wenn ich mal laut rede, dann sagen die Leute ‚schhh‘. Einige meiner Freunde machen viel Ärger. Sie benehmen sich daneben. Wenn sie nachsitzen müssen, fliegen sie vielleicht von der Schule. Ich könnte einen Freund verlieren.

Fallverständnis

Billy erzählte mehr als ich erwartet hatte. Zwischen seinen Erzählungen legte er oft lange Pausen ein, aber durch geduldiges, erwartungsvolles Zuhören begann er immer wieder zu erzählen. Seine spontanen Berichte waren oft zusammenhangslos, was sein Verhalten etwas beliebig erscheinen ließ.

Nach der Anamnese verordnete ich Billy Magnesium iodatum 1M wegen seiner Verschlimmerung durch Streit, seiner Isolation und seines großen Appetits. Iodum als Halogen in Reihe 5 (Silberserie) würde seine Sprachprobleme abdecken. Rückblickend kann ich sagen, dass dieses Mittel viele Aspekte des Falls nicht abdeckt und auch meine Wahl des Symptoms ‚Beschwerden durch Streit‘ als zentrale Rubrik fraglich scheint.

16. Oktober 2012

Billy erzählt: Meine Schwester war in einem Autounfall. Ich musste schauen, ob es ihr gut geht. Zuerst war ich neugierig, ob sie verletzt war. Ein Typ hat sie ausgetrickst und wollte ihr Geld haben.

Nächsten Montag bekommen wir Zeugnisse. In Mathe hatte ich zuerst bessere Noten, dann schlechtere. Ich bekomme ein ‚C‘. Die Schule wird schwerer. Wenn ich die 6. Klasse nicht so gut schaffe, dann wird es in der 7. Klasse noch schwerer.

Ich bin frustriert. Lerne, wie ich damit umgehen kann. Ich bin neugierig auf das zweite Halbjahr. Ich liebe es, manchmal Klavier zu spielen. Ich habe jeden Mittwoch eine Klavierstunde. Da ist dieser Polizist mit dem Namen (Name nicht verständlich). Am Freitag gehen wir auf die Hochzeit meiner Tante. Ich werde einmal Regisseur oder gehe zur Luftwaffe.

Ich mag dieses Buch ‚Maximum Ride‘. Sieben Engelkinder, die auf Abenteuer gehen. Die Serie war ziemlich gut. Ich mag die ‚Avengers‘ auch. Jeder Superheld hat seinen eigenen Film. Es ist gut gemacht. Alle Schauspieler dazu zu bringen, ihre Rollen zu spielen.

DB: Erzähle mir etwas von der Luftwaffe?

B: Flugzeuge fliegen, Kampfflugzeuge fliegen. Leute hin und her transportieren. Den USA dienen. Ich lese gerade ‚Confessions of a Murder Suspect‘. Da wird jemand beschuldigt, obwohl er das Verbrechen nicht begangen hat.

DB: Erzähle mir von Situationen, die du gar nicht magst.

B: Wenn wir eine Klassenarbeit wieder bekommen. Und Zeugnisse. Wenn wir die Hunde rauslassen. Manchmal graben sie Löcher.

DB: Was stört dich an den Löchern?

B: Manchmal kommen dann Schlangen oder Frösche in den Hof.

DB: Erzähle mir etwas über Frösche.

B: Frösche sind unangenehm. (Zum ersten Mal wird Billy lebhaft). Sie können überall herumspringen. Die machen mich fertig! Sie sind widerlich. Meine Mutter hat einmal etwas gestreut, damit die Frösche alle sterben.

DB: Widerlich?

B: Sie übertragen Krankheiten. Du musst dir die Hände waschen.

DB: Haben Frösche auch etwas Gutes?

B: Sie fressen die Käfer.

DB: Kannst du mir einen deiner Träume erzählen?

B: Ein Hund konnte sprechen. Es war lustig. Ein Turm ist umgefallen. Ich stand oben drauf. Ich musste herunterspringen, oder so schnell wie möglich herunterklettern. Ich konnte mich retten, oder ich wäre zerquetscht worden.

DB: Was ist das widerlichste Tier der Welt?

B: Eine Eidechse. Die kriecht und windet sich. Wenn man den Schwanz abschneidet, bewegt sie sich immer noch. Eidechsen können neue Schwänze wachsen lassen. Niemand ist es gewohnt, dass Gliedmaßen, die abgeschnitten werden, sich immer noch bewegen.

DB: Was ist widerlicher? Eine Eidechse oder ein Frosch?

B: Frösche sind widerlicher. Eidechsen sind irgendwie cool.

Fallverständnis

In diesem Gespräch war die sprunghafte und beliebige Art und Weise seiner Sprache noch deutlicher zu erkennen. In den ersten Sätzen, als er von dem Autounfall seiner Schwester berichtete, kam eine Opfer-Angreifer-Thematik zum Vorschein: „Ein Typ hat sie ausgetrickst und wollte ihr Geld haben.“ Erinnern wir uns an die Geschichte der Mutter, die während der Schwangerschaft einen Autounfall erlebt hatte. Das Signifikante dabei ist, dass sie davon ausgeht, dass der Unfall von ihrem Schwiegervater instigiert wurde, weil er sie loshaben wollte.

In Anbetracht der Tatsache, dass Billys Hauptbeschwerde in seinen mangelnden Sprachfähigkeiten liegt, fragen Sie sich als Leser vielleicht, warum ich mich nicht weiter auf ein Mittel aus der fünften Reihe des Periodensystems, der Silberserie, konzentriert habe. Billys überraschende Redseligkeit während unseres Gespräch machte deutlich, dass das eigentliche Problem nicht seine mangelhafte Sprech- und Sprachfähigkeiten waren, sondern seine eigenen Gefühle in Bezug auf das Sprechen in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Wie er schon am Ende unserer Erstanamnese formulierte: „Wenn ich mal laut rede, dann sagen die Leute ‚schhh‘.“ „Einige meiner Freunde machen viel Ärger. Sie benehmen sich daneben. Wenn sie nicht nachsitzen müssen, fliegen sie vielleicht von der Schule. Ich könnte einen Freund verlieren.“

Billys intensive Angst und Reaktion auf Frösche war das herausragende, sonderbare und merkwürdige Symptom. Ich dachte über das natürliche Verhalten der Frösche nach: Es gibt dominante Männchen (sehr ausdrucksstark) und gleichzeitig auch passivere männliche Frösche, die in das Revier eines anderen Männchens eindringen, sich neben das dominante Männchen setzen und abwarten bis dieses seinen Platz räumt.

Dann betrachtete ich die Eigenheiten von Billys Sprache etwas näher. Er springt wirr umher, genauso, wie es Frösche als Teil ihrer Überlebensstrategie tun. Auch kam mir die Beschreibung seiner Mutter in den Sinn (er schottet sich ab) und vieles von dem, was er erzählte, entsprach einfach nicht der Wahrheit. Wir haben es hier also mit einer Täuschung zu tun, ein typisches Merkmal der Reptilien und wahrscheinlich auch der Amphibien. Das wurde sehr deutlich, als ich ihn fragte, welches Tier denn widerlicher sei – Eidechse oder Frosch. Er wollte fast reflexartig Eidechse sagen, entschied sich dann aber für Frösche. Auch seinen Traum vom sprechenden Hund deute ich als Hinweis auf das Tierreich und auf das Thema Sprache und ob es in Ordnung oder gar möglich ist, überhaupt zu sprechen.

Verschreibung: Da ich keine Apotheke finden konnte, die den Nordamerikanischen Ochsenfrosch als homöopathisch potenziertes Mittel herstellt, bat ich seine Mutter den Begriff Rana catesbeiana 1M auf ein Stück Papier zu schreiben und ein Glas Wasser daraufzustellen. Das Glas sollte mindestens eine Stunde lang stehen bleiben, damit der Kontakt zu dem geschriebenen Wort ausreichend wirken konnte. Anschließend sollte sie Billy einen Esslöffel von dem Wasser geben.

Follow ups

Zwei Wochen später: Billy scheint glücklicher zu sein. Er erzählte spontan und war nicht mehr so sprunghaft. Er erzählte mir von ein paar glücklichen Träumen, die er gehabt hatte. Seine Mutter berichtete, dass er verspielter geworden ist und auch Witze machen kann. Das Wichtigste ist aber, dass er sich nicht mehr so sehr abkapselt. Zur Überraschung seiner Familie hat er sogar auf einer Hochzeit getanzt. Seine Mutter beschreibt es als eine 180°-Wende.

Sechs Wochen später, 11. Dezember 2012: Wir treffen uns wieder bei Skype. Wieder schaut Billy sehr zufrieden aus. Als ich ihn fragte, was ihn seit unserem letzten Gespräch am meisten belastet habe, erzählt von einem Vortrag, den er in seiner Klasse halten musste: „Ich war nervös, aber ich habe mich getraut. Ich habe es gut gemacht. Ich war erleichtert!“

„Würdest du dich immer noch als schüchtern beschreiben?“ frage ich ihn.

„Ich habe das ziemlich hinter mir gelassen“, antwortet Billy.

Ich sprach noch einmal mit seiner Mutter. Sie bestätigt mir, dass Billy große Fortschritte gemacht hat. Er wird manchmal noch launisch, aber es geht wieder vorbei. „Er hat sich viel mehr geöffnet, im Vergleich zu früher. Er ist geselliger geworden, offener und redet mehr.“ In einer Email schreibt sie: „In letzter Zeit freue ich mich sehr über Billys Fortschritte. Es ist, als hätte er den Schatten hinter sich gelassen. Er lacht jetzt auch frei heraus. Er macht Witze mit seinen Schwestern und ärgert sie manchmal auch, aber auf schöne Art und Weise. Im Moment ist es so, dass wir immer lachen müssen, wenn Billy etwas Lustiges sagt, weil wir es einfach nicht gewohnt sind, dass er überhaupt etwas sagt! Zusammen mit seinen Schwestern hat er heute den ganzen Nachmittag auf seinem Zimmer Popsongs gesungen, mit Freunden telefoniert und er freut sich sogar auf Weihnachten und auf seinen Geburtstag. Ich bin sehr optimistisch in Bezug auf seine Fortschritte.“

12. Februar 2013: „Ich rede viel und es fühlt sich gut an. Außerdem treffe ich mich jetzt mit Mädchen. Ich hatte zwei Träume. Im ersten Traum war ich in diesem Auto auf einer Brücke. Es war viel Verkehr. Ich hatte keine Kontrolle über mich und über das, was ich tue. Es war alles sehr verwirrt. Im zweiten Traum war ich mit meiner Klasse auf Zeltlager in der Nähe von einem Flughafen. Ich bin in dieses Gebäude gegangen um meine Tasche zu holen. Es war der gleiche Ort wie in dem anderen Traum. Aber dieses Mal hatte ich alles unter Kontrolle. Ich war ganz ruhig.“

DB: Wie geht es dir in Bezug auf Frösche?

B: Ich sehe sie nicht mehr so oft. Sie machen mir keine Angst mehr.

16 Februar 2015: Mehr als zwei Jahre nach der Behandlung schreibe ich eine kurze Email an Billys Mutter um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Sie schreibt: „Billy geht es ERSTAUNLICH gut. Vielen Dank für deine Unterstützung; du hast ihm sehr geholfen.“

Reflexionen über Rana catesbeiana

Soweit ich weiß, wurde das Mittel von mir verschrieben, bevor es Verreibungen oder Prüfungen dazu gab. Es ist interessant, diesen Fall mit den Ergebnissen der von Roland Günther durchgeführten Verreibung zu vergleichen. Das Thema Sexualität – ein wichtiges Thema in der Verreibung – war bei diesem Jungen auch präsent, aber eher versteckt. Das Alter des Patienten - er war erst 12 - muss hier natürlich berücksichtigt werden. Trotzdem erwähnte die Mutter spontan, dass Billy trotz seiner Verschlossenheit gerne von den Techtelmechteln in seiner Klasse erzählt. Im Anschluss an die Mittelgabe erzählt er dann auch freiheraus, dass er sich gerne mit Mädchen trifft.

Roland Günther beschreibt eine Schamlosigkeit, eine emotionale Kälte und ein Verlangen, in andere Menschen einzudringen ohne Empathie zu zeigen. Dieser Aspekt war in unserem Fall nicht offensichtlich, aber Billys Freude an Mordgeschichten, Anschlägen und seine fast klinische Neugierde in Bezug auf den Autounfall seiner Schwester lassen diese Charakterzüge vermuten. Der Begriff „neugierig“ wurde von ihm mehrere Male benutzt. In diesem Zusammenhang ist es interessant anzumerken, dass Frösche in den naturwissenschaftlichen Fächern (in Schulen bereits schon in den jüngeren Jahrgangsstufen) oft als Forschungsobjekte eingesetzt und seziert werden. Dabei wird der Frosch reglos gestellt und schließlich getötet, indem eine Nadel in den Hirnstamm eingeführt wird.

In einem weiteren Schriftwechsel mit Roland wurden weitere Gemeinsamkeiten zwischen seiner Verreibung und meinen Fallbeobachtungen deutlich: das Thema Eidechsen und Schlangen, sowie springende und hüpfende Bewegungen.

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Fotos

Shutterstock: Little boy reading under the cover; simona pilolla 2
Wikimedia Commons: Lithobates catesbeianus; Buchanan Bill; Public domain

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: exzessive Schüchternheit; Isolation; Sprachstörungen, Entwicklungsstörungen; Furcht vor Fröschen und Käfern; Ochsenfrosch

Mittel: Rana catesbeiana 

Originalartikel: Interhomeopathy.org



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