Sensibel, weich und verwundbar: ein Fall von Nymphaea odorata (wohlriechende Seerose)

von Martin Jakob

Ein 30-jähriger Mann kommt mit einem multiplen Beschwerdebild in die Praxis, er leidet unter Depressionen und Müdigkeit. Außerdem klagt er über Schmerzen im Genitalbereich, ständige Übelkeit, Schwindel und wandernde Schmerzen am ganzen Körper.

Die Schmerzen und die Depression begannen im Jahr 2008 - sie wurden im Rahmen eines Burnout-Syndroms diagnostiziert, weswegen sich der Patient in psychiatrische Behandlung begeben musste. Er war arbeitsunfähig und wurde von 2008 bis 2011 wiederholt in der Psychiatrie behandelt, unter anderem auch stationär.
Den Schwindel vergleicht der Patient mit dem Gefühl, als stünde er auf einem schwankenden Boot. Er ist immer da und lässt ihn im Stehen sehr unsicher werden. Es fühlt sich an, als müsse er stolpern. Der Patient hat Schmerzen in Penis, Hoden und Leisten; es sind erdrückende, stechende Schmerzen, die im Stehen schlimmer sind. Er leidet oft unter Verspannungen im Nackenbereich und fühlt einen Kloß in Hals und Abdomen. Er fühlt sich so erschöpft, dass er die ganze Zeit nur schlafen könnte. Wenn er sich trotz seiner Müdigkeit zum Arbeiten zwingt, geht es ihm schlechter. Wenn er mit mehreren Leuten zusammen ist, die sich alle gleichzeitig unterhalten, muss er sich sehr stark konzentrieren, um einem Gespräch folgen zu können.
Beim Stuhlgang geht meist Kot mit einem durchsichtigen, schleimigen Belag ab und nach dem Genuss von Bier wird seine Haut grünlich-gelb. Der Patient ist verzweifelt, weil er glaubt, nicht wieder gesund zu werden und in der Psychotherapie keine Fortschritte macht.

Den Anfang seiner Beschwerden führt der Patient auf den Zeitpunkt zurück, an dem er Stimmen hörte. Jeden Tag hörte er jemanden zu ihm sprechen, der ihm Wichtiges mitzuteilen hatte - es hörte nicht auf. Er fühlte sich komplett verwirrt und verstand nicht, was mit ihm geschah. Es gab etwas in seinem Leben, das er nicht verstehen konnte, bis er herausfand, dass er als Kind sexuell missbraucht worden war. Als Kind hatte er später auch schreckliche Albträume. Im Traum wurde er von einem Mann mit schwarzer Maske verfolgt oder wurde von jemandem auf dem Bett festgehalten. Der Patient äußert das Gefühl, selbst eine Maske zu tragen gekoppelt mit dem Empfinden, als würde seine Haut gespannt. Er leidet unter Geruchshalluzinationen.

Der Patient wuchs als Einzelkind auf, fühlte sich immer einsam und hätte gerne Geschwister gehabt. In der Schule war er nicht beliebt. Er war ein Einzelgänger, der sich nicht mit seinen Klassenkameraden verstand und oft als Sündenbock herhalten musste. Zeitweilen bereitete ihm die Situation großen Kummer. Er konnte sich nur schlecht konzentrieren, hatte Lernschwierigkeiten und konnte sich seine Zeit nur mäßig gut einteilen. In der Grundschule war er sehr unglücklich.

Seinen Vater hatte er als Fremden empfunden – ein Vater, der nur auf dem Papier existierte, der Mann seiner Mutter. Seine Eltern schliefen in getrennten Schlafzimmern. Viele Jahre später fand der Patient heraus, dass sein „Vater“, nicht sein richtiger Vater war. Alle hatten es gewusst, nur er nicht. Von seiner Mutter fühlte er sich geliebt.

Auf mich macht der Mann einen sehr sensiblen, sanften und verletzlichen Eindruck; er sieht sehr jung aus.

Unverträglichkeiten: Alkohol, Bier.
Verlangen: Süßigkeiten, Kuchen.

Analyse

Wasserstoffserie: hört Stimmen; Verwirrung; Desorientierung; versteht nichts; Schwindel.
Kohlenstoffserie: als Kind alleingelassen; der Vater existierte nur auf dem Papier, kümmert sich nicht um ihn; fühlt sich als Kind ausgeliefert und schutzlos.
Nymphaeales: merkwürdiges Gefühl, welches er nicht benennen kann (= kann nicht handeln, sondern nur empfinden).
Nymphaeaceae: verloren in der Welt und sexuell missbraucht, gequält; Schmerzen in Genitalien und Leiste.
Nymphaea odorata: Der Fall fühlte sich eher nach Stadium 12 an, nicht Stadium 6: Er wird von einem schwarzen Mann verfolgt; es fühlt sich gewalttätig an.

Verschreibung: Nymphaeae odorata

Follow-up

Der Patient hat keine Schmerzen im Genitalbereich mehr. Auch der Schwindel, die Übelkeit und die Müdigkeit sind verschwunden. In den Tagen nach der Einnahme des Mittels hatte er Geruchshalluzinationen und hörte eine flüsternde Stimme im Kopf. Er wusste, dass es Dinge aus seiner Vergangenheit waren, die er aber nicht richtig verstehen oder einordnen konnte: Die Dunkelheit, die Gerüche und die Geräusche kamen von früher. Es waren Kindheitserinnerungen. „Ich war noch sehr jung, als ich missbraucht wurde, ich konnte es gar nicht verstehen, es drang nicht in mein Bewusstsein vor.“ Früher fühlte sich der Patient von seinen Gefühlen überrollt – von den Schmerzen, der Übelkeit und dem Schwindel. Es war wie eine Lawine. Am schlimmsten war, dass er überhaupt keine Kontrolle darüber hatte; er konnte nur warten, bis es wieder vorbei war. Mithilfe des homöopathischen Mittels konnte er seine Kindheit aufarbeiten. Als kleines Kind hatte er keine Möglichkeit gehabt, seine Erfahrungen und Gefühle zu verstehen. Heute weiß er, dass alles, war er gefühlt hatte, auch wirklich existierte, es war wahr. Vor Einnahme des Mittels hatte er sich wie ein kleines Kind gefühlt, jetzt nimmt er sich als erwachsenen Menschen wahr.

Kommentar

Der zentrale Konflikt der Nymphaeaceae ist der Konflikt zwischen Sein und Empfinden (Wasserstoffserie) und der Unfähigkeit zu handeln oder zu reagieren (Kohlenstoffserie). Hier wird die Schönheit der Pflanzensystematik deutlich: Wir können die Probleme unserer Patienten, die zentralen Themen, die sie mit sich bringen, besser verstehen. Im vorliegenden Fall ist es das Kindheitstrauma. Wir können uns der Serien des Periodensystems bedienen, um punktgenau verschreiben zu können, die homöopathische Behandlung gewinnt so an Tiefgang. Die Arzneimittel aus der Familie der Nymphaeaceae sind indiziert für tief greifende Traumata, insbesondere dann, wenn es zu einer Spaltung zwischen Seele und Körper gekommen ist. Die körperliche Empfindung ist da, kann aber nicht vom Bewusstsein verarbeitet werden.

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Dieser Artikel wurde auf www.interhomeopathy.org publiziert.

Fotos: © shutterstock Brian Lasenby, © shutterstock.com hikrcn
Kategorie: Fälle
Schlüsselwörter: Depression, Müdigkeit, Übelkeit, Schwindel, wandernde Schmerzen, Unsicherheit, kindlich, Lernschwierigkeiten, sexueller Missbrauch.
Mittel: Nymphaeae odorata

 

Sensibel, weich und verwundbar: ein Fall von Nymphaea odorata (wohlriechende Seerose)

von Martin Jakob

Ein 30-jähriger Mann kommt mit einem multiplen Beschwerdebild in die Praxis, er leidet unter Depressionen und Müdigkeit. Außerdem klagt er über Schmerzen im Genitalbereich, ständige Übelkeit, Schwindel und wandernde Schmerzen am ganzen Körper.

Die Schmerzen und die Depression begannen im Jahr 2008 - sie wurden im Rahmen eines Burnout-Syndroms diagnostiziert, weswegen sich der Patient in psychiatrische Behandlung begeben musste. Er war arbeitsunfähig und wurde von 2008 bis 2011 wiederholt in der Psychiatrie behandelt, unter anderem auch stationär.
Den Schwindel vergleicht der Patient mit dem Gefühl, als stünde er auf einem schwankenden Boot. Er ist immer da und lässt ihn im Stehen sehr unsicher werden. Es fühlt sich an, als müsse er stolpern. Der Patient hat Schmerzen in Penis, Hoden und Leisten; es sind erdrückende, stechende Schmerzen, die im Stehen schlimmer sind. Er leidet oft unter Verspannungen im Nackenbereich und fühlt einen Kloß in Hals und Abdomen. Er fühlt sich so erschöpft, dass er die ganze Zeit nur schlafen könnte. Wenn er sich trotz seiner Müdigkeit zum Arbeiten zwingt, geht es ihm schlechter. Wenn er mit mehreren Leuten zusammen ist, die sich alle gleichzeitig unterhalten, muss er sich sehr stark konzentrieren, um einem Gespräch folgen zu können.
Beim Stuhlgang geht meist Kot mit einem durchsichtigen, schleimigen Belag ab und nach dem Genuss von Bier wird seine Haut grünlich-gelb. Der Patient ist verzweifelt, weil er glaubt, nicht wieder gesund zu werden und in der Psychotherapie keine Fortschritte macht.

Den Anfang seiner Beschwerden führt der Patient auf den Zeitpunkt zurück, an dem er Stimmen hörte. Jeden Tag hörte er jemanden zu ihm sprechen, der ihm Wichtiges mitzuteilen hatte - es hörte nicht auf. Er fühlte sich komplett verwirrt und verstand nicht, was mit ihm geschah. Es gab etwas in seinem Leben, das er nicht verstehen konnte, bis er herausfand, dass er als Kind sexuell missbraucht worden war. Als Kind hatte er später auch schreckliche Albträume. Im Traum wurde er von einem Mann mit schwarzer Maske verfolgt oder wurde von jemandem auf dem Bett festgehalten. Der Patient äußert das Gefühl, selbst eine Maske zu tragen gekoppelt mit dem Empfinden, als würde seine Haut gespannt. Er leidet unter Geruchshalluzinationen.

Der Patient wuchs als Einzelkind auf, fühlte sich immer einsam und hätte gerne Geschwister gehabt. In der Schule war er nicht beliebt. Er war ein Einzelgänger, der sich nicht mit seinen Klassenkameraden verstand und oft als Sündenbock herhalten musste. Zeitweilen bereitete ihm die Situation großen Kummer. Er konnte sich nur schlecht konzentrieren, hatte Lernschwierigkeiten und konnte sich seine Zeit nur mäßig gut einteilen. In der Grundschule war er sehr unglücklich.

Seinen Vater hatte er als Fremden empfunden – ein Vater, der nur auf dem Papier existierte, der Mann seiner Mutter. Seine Eltern schliefen in getrennten Schlafzimmern. Viele Jahre später fand der Patient heraus, dass sein „Vater“, nicht sein richtiger Vater war. Alle hatten es gewusst, nur er nicht. Von seiner Mutter fühlte er sich geliebt.

Auf mich macht der Mann einen sehr sensiblen, sanften und verletzlichen Eindruck; er sieht sehr jung aus.

Unverträglichkeiten: Alkohol, Bier.
Verlangen: Süßigkeiten, Kuchen.

Analyse

Wasserstoffserie: hört Stimmen; Verwirrung; Desorientierung; versteht nichts; Schwindel.
Kohlenstoffserie: als Kind alleingelassen; der Vater existierte nur auf dem Papier, kümmert sich nicht um ihn; fühlt sich als Kind ausgeliefert und schutzlos.
Nymphaeales: merkwürdiges Gefühl, welches er nicht benennen kann (= kann nicht handeln, sondern nur empfinden).
Nymphaeaceae: verloren in der Welt und sexuell missbraucht, gequält; Schmerzen in Genitalien und Leiste.
Nymphaea odorata: Der Fall fühlte sich eher nach Stadium 12 an, nicht Stadium 6: Er wird von einem schwarzen Mann verfolgt; es fühlt sich gewalttätig an.

Verschreibung: Nymphaeae odorata

Follow-up

Der Patient hat keine Schmerzen im Genitalbereich mehr. Auch der Schwindel, die Übelkeit und die Müdigkeit sind verschwunden. In den Tagen nach der Einnahme des Mittels hatte er Geruchshalluzinationen und hörte eine flüsternde Stimme im Kopf. Er wusste, dass es Dinge aus seiner Vergangenheit waren, die er aber nicht richtig verstehen oder einordnen konnte: Die Dunkelheit, die Gerüche und die Geräusche kamen von früher. Es waren Kindheitserinnerungen. „Ich war noch sehr jung, als ich missbraucht wurde, ich konnte es gar nicht verstehen, es drang nicht in mein Bewusstsein vor.“ Früher fühlte sich der Patient von seinen Gefühlen überrollt – von den Schmerzen, der Übelkeit und dem Schwindel. Es war wie eine Lawine. Am schlimmsten war, dass er überhaupt keine Kontrolle darüber hatte; er konnte nur warten, bis es wieder vorbei war. Mithilfe des homöopathischen Mittels konnte er seine Kindheit aufarbeiten. Als kleines Kind hatte er keine Möglichkeit gehabt, seine Erfahrungen und Gefühle zu verstehen. Heute weiß er, dass alles, war er gefühlt hatte, auch wirklich existierte, es war wahr. Vor Einnahme des Mittels hatte er sich wie ein kleines Kind gefühlt, jetzt nimmt er sich als erwachsenen Menschen wahr.

Kommentar

Der zentrale Konflikt der Nymphaeaceae ist der Konflikt zwischen Sein und Empfinden (Wasserstoffserie) und der Unfähigkeit zu handeln oder zu reagieren (Kohlenstoffserie). Hier wird die Schönheit der Pflanzensystematik deutlich: Wir können die Probleme unserer Patienten, die zentralen Themen, die sie mit sich bringen, besser verstehen. Im vorliegenden Fall ist es das Kindheitstrauma. Wir können uns der Serien des Periodensystems bedienen, um punktgenau verschreiben zu können, die homöopathische Behandlung gewinnt so an Tiefgang. Die Arzneimittel aus der Familie der Nymphaeaceae sind indiziert für tief greifende Traumata, insbesondere dann, wenn es zu einer Spaltung zwischen Seele und Körper gekommen ist. Die körperliche Empfindung ist da, kann aber nicht vom Bewusstsein verarbeitet werden.

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Dieser Artikel wurde auf www.interhomeopathy.org publiziert.

Fotos: © shutterstock Brian Lasenby, © shutterstock.com hikrcn
Kategorie: Fälle
Schlüsselwörter: Depression, Müdigkeit, Übelkeit, Schwindel, wandernde Schmerzen, Unsicherheit, kindlich, Lernschwierigkeiten, sexueller Missbrauch.
Mittel: Nymphaeae odorata





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