Die dunkle Wolke der Armut: ein Fall von Melilotus

von Vladimir Petroci


Der 45-jährige Patient, ein Bestattungsunternehmer, kommt wegen einer Pollenallergie in die Sprechstunde. Von April bis September leidet er unter den Symptomen seines Heuschnupfens: Juckreiz in den Augen mit Tränenfluss, Juckreiz in der Nase mit wässrigen Absonderungen und einem Engegefühl im Hals. Er ist oft heiser. Im Frühjahr und Sommer kann er nicht ohne Taschentücher aus dem Haus gehen. Zusätzlich zu den Gräsern verträgt der Patient keine Milchprodukte.

5 Jahre zuvor hatte sich der Mann als Bestattungsunternehmer selbstständig gemacht. Aus finanziellen Gründen hatte er anfangs in seinem Büro gelebt, Geld für eine eigene Wohnung warf das Unternehmen damals noch nicht ab. Es war eine schwere Zeit, besonders der viele Staub in der Firma machte ihm zu schaffen. Damals erkrankte er an einer Lungenentzündung, die er nie richtig auskurierte, weil er sich keine Auszeit vom Beruf leisten konnte. Die Symptome der Lungenentzündung waren Enge- und Erstickungsgefühl im Hals und Nasenbluten. Im Anschluss kamen die allergische Rhinitis und Asthma. Zurzeit leidet der Patient unter Husten und Übelkeit, sobald er mit Staub in Kontakt kommt. Wenn er sich im Beruf körperlich anstrengen muss, bekommt er Atemnot. Er muss hochdosiertes Antihistamin einnehmen, was seine Symptome deutlich lindert. Sobald er das Antihistamin absetzt, werden die Symptome wieder so heftig, dass es 3 Tage dauert bis die erneute Einnahme von Antihistamin wirken kann.


Die Mutter des Patienten war Alkoholikerin. Sie starb an einer Hirnblutung, die durch einen Sturz im Vollrausch verursacht wurde. Wegen seiner Mutter hegt der Patient eine tiefe Abneigung gegen Alkohol. Als Kind wurde der Patient regelmäßig von anderen Jungs verprügelt. Als seine Mutter davon hörte, schlug sie ihren Sohn windelweich, weil er sich das von anderen gefallen lies. Er musste oft Hiebe einstecken, weil er als Kind dürr, schwächlich und untergewichtig war. Im Alter von 11 Jahren wog er gerade mal 15kg, mit 18 brachte er 60kg auf die Waage. In diesem Alter wurde er einmal so sehr von einem anderen Jungen in die Mangel genommen, dass er sich heftig zur Wehr setzen musste und den anderen Jungen dabei verletzte. Dafür bekam er eine Bewährungsstrafe und musste dem Jungen Schadenersatz zahlen.

Seit seiner Kindheit ist der Mann ein Außenseiter und kriminell veranlagt. Mit 15 begann er Motorrad zu fahren, obwohl er keinen Führerschein besaß. Er lieferte sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, wurde aber nie gefasst. Das Motorrad versteckte er in der Wohnung. Nach zwei Jahren wurde er von seiner Mutter bei der Polizei angezeigt und während seiner Festnahme von den Polizisten misshandelt.

Als Jugendlicher besuchte er die Berufsschule und bekam 90 Kronen (umgerechnet etwa 13 Euro) Taschengeld im Monat. Das meiste davon nahm ihm sein Vater weg. Sein Vater war ein Taugenichts, der sich nie um seine Familie kümmerte. Die Familie war schrecklich arm, es gab nicht genug zu essen und kein Geld für Lebensmittel oder Kleidung. Der Patient und seine Brüder waren gezwungen, die Schuhe der Nachbarn zu stehlen, um nicht barfuss gehen zu müssen.

Der Vater brach seinem Sohn einmal die Nase, weil er ihn verdächtigte, 2 Kronen (30 Cent) gestohlen zu haben, obwohl einer seiner Brüder das Geld genommen hatte. Der Bruder starb einige Zeit später an einer Embolie, die sich in Folge multipler Frakturen entwickelte: Die Mafia hatte ihm beide Beine gebrochen, damit er nicht gegen sie vor Gericht aussagen würde. Ein zweiter Bruder unterhält eine Inzestbeziehung zu seiner eigenen Tochter und der dritte Bruder stürzte von einem Dach und ist seitdem querschnittgelähmt. Es besteht kein Kontakt zu den Geschwistern.

Eine Zeit lang arbeitete der Patient in einer Fabrik, wo er sich eine schwere Dermatomykose an den Füßen zuzog. Zeitweilig hat er ringförmige Mykosen am Körper.

Im Alter von 18 Jahren wurde der Patient wegen Diebstahls zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er auf der Arbeit einen Werkzeugkoffer gestohlen hatte. Wegen seiner Vorstrafe (Körperverletzung) musste er seine Gefängnisstrafe sofort antreten. Eigentlich sollte er für 3 Jahre hinter Gitter, aber sein Vater intervenierte und die Strafe wurde verkürzt. Es war das erste Mal, dass sich sein Vater für ihn eingesetzt hatte. Der Bruder seines Vaters war ein hochrangiger Offizier beim Militär und legte ein gutes Wort für seinen Neffen ein. Im Zuge seiner Verhaftung wurde der Patient jedoch schwer misshandelt und lebensgefährlich verletzt in einer Auffangzelle liegen gelassen. Gegen alle Erwartungen überlebte er diesen Vorfall, nur sein Haar fiel aufgrund des massiven Stresses aus.
Während der Haftstrafe versuchten mehrere Gefängniswärter ihm den Selbstmord eines ‚Zigeuners‘ in die Schuhe zu schieben. Bei seiner Entlassung wog der Mann 90kg – er hatte im Gefängnis hart trainiert. Das Geld, das er mit seiner Arbeit im Gefängnis verdiente, schickte er seiner Familie nach Hause.

Beim Militärdienst erging es ihm kaum besser: Während einer Übung riss seine Achillessehne, der Offizier befahl ihm jedoch, weiter zu marschieren. Die verletzte Sehne konnte erst am Abend genäht werden. Nach der notdürftigen Versorgung der Verletzung musste er sofort wieder seinen Dienst antreten und Malerarbeiten verrichten. Er warf seine Krücke nach dem diensthabenden Offizier und versuchte durch ein Fenster zu fliehen. Dabei erlitt er erneut schwerste Verletzungen: Glassplitter schnitten ihm den Arm auf und zerfetzten die Bauchdecke, sodass die Gedärme herausquollen. Als wäre das nicht genug, wurde der Krankenwagen, der ihn in das Krankenhaus bringen sollte, in einen Unfall verwickelt und der Patient mitsamt Trage während des Transports aus dem Wagen geschleudert. Er erlitt einen Kieferbruch. Ein ziviler Krankenwagen brachte ihn schließlich in ein Krankenhaus. Aufgrund seiner Verletzungen konnte er keine Nahrung zu sich nehmen, wurde aber von einer Krankenschwester beschuldigt, absichtlich nicht essen zu wollen. Folglich wurde er in die Psychiatrie eingewiesen und mit starken Psychopharmaka behandelt. Wegen der starken Medikamente begann der Patient einzunässen, wofür ihm wieder Absicht unterstellt wurde. Erst als er sich einem diensthabenden Oberarzt anvertrauen konnte, seine Geschichte schilderte und diesem von seinen zahlreichen Unfällen erzählte, konnte er die psychiatrische Abteilung verlassen.

Als er schließlich aus der Armee entlassen wurde, begann er eine Lehre als Drucker, verlor aber die Stelle recht bald wieder, als die Firma in finanzielle Schwierigkeiten geriet.  Danach war er lange arbeitslos, bis ihm das Arbeitsamt schließlich eine Stelle als Bestatter vermittelte. Er machte seine Arbeit gut und konnte sich in der Firma hocharbeiten. Er begann eine Affäre mit seiner Chefin und wollte die Firma nach seinen Vorstellungen umstrukturieren. Als er seine Ideen nicht durchsetzen konnte, verlies er seine Geliebte und deren Firma und gründete ein eigenes Bestattungsinstitut. Jetzt arbeitet er in Konkurrenz zu seiner alten Firma und bietet schönere und billigere Beerdigungen an. In Bezug auf seine Arbeit beschreibt er sich selbst als Begleiter der Verstorbenen auf dem Weg in eine andere Welt.


Der Patient ist mit seinem Bestattungsunternehmen sehr erfolgreich geworden, was das Leben für ihn manchmal aber noch härter werden lies als vorher. Einmal wurde er von zwei Männern in einem Auto verfolgt und angeschossen. Glücklicherweise blieb er unverletzt, bei seinem Wagen gingen Fenster und Rahmen zu Bruch. Weil er sich nicht einschüchtern ließ und sein Institut immer weiter ausbaute, bekam er immer mehr Warnungen, unter anderem wurde er von maskierten Männern auf seinem Firmengelände angegriffen und zusammengeschlagen. Mittlerweile ist er sehr vorsichtig geworden und wägt sorgfältig ab, mit wem er sich einlässt.

Der Patient isst gerne und im Grunde genommen alles. Er mag reichhaltige und fette Mahlzeiten, z.B. Eisbein mit Kohl. Nach dem Essen fühlt er sich jedoch träge und aufgebläht. Er verdaut nur langsam. Er fühlt sich schwer, so als hätte er einen Stein im Magen. Weil er so viel isst, neigt er zu Übergewicht, es ist eine Art Kompensationsverhalten für seine schwere Jugend, in der er nie genug zu essen hatte. Sein Übergewicht verschafft ihm außerdem Respekt. Früher fühlte er sich ständug gedemütigt.

Der Patient verträgt keine Milch. Von pasteurisierter Milch bekommt er Durchfall, Rohmilch verträgt er dagegen gut. Er mag Reis, Gulasch und Wurst. Als Kind hatte er sich einmal geweigert, eine Tomatensuppe zu essen, weil ihn die Farbe an Blut erinnerte. Seine Mutter wurde daraufhin sehr wütend und warf ein Messer nach dem Vater, den das Messer aber verfehlte. Es traf den Patienten an der Stirn, die Narbe davon ist heute noch zu sehen.

Trotz aller Unfälle und körperlichen Verletzungen ist die größte Angst des Patienten die vor der Armut. Zwar ist er mittlerweile auch ein ausgeglichener Autofahrer geworden, die größte Veränderung hat jedoch im seelisch-psychischen Bereich stattgefunden. Seine Erfahrungen haben ihn vorsichtig werden lassen und er verabscheut Gewalt. Als junger Mann war er jähzornig und aufbrausend gewesen, ist oft wegen Kleinigkeiten explodiert. Fast regelmäßig wurde er misshandelt und geschlagen. „Heute würde ich mich ohne Widerstand verprügeln lassen, nur um nicht ins Gefängnis gehen zu müssen.“

Er würde gern Jura studieren und Rechtsanwalt werden. Er hat ein Gesetzbuch zu Hause, in dem er regelmäßig und gerne liest. Der Patient ist überzeugt, dass das Gefängnis ein Mann aus ihm gemacht hat.

Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe durchlebte der Mann eine depressive Phase mit Suizidgedanken. Damals lief es in seinem Bestattungsunternehmen auch nicht so gut.

Mit seiner zweiten Frau ist er sehr glücklich. Sie ist 14 Jahre jünger als er und tut ihm gut. Durch ihren Einfluss ist er ruhiger und ausgeglichener geworden.

Der Patient leidet außerdem unter einer fortgeschrittenen Coxarthrose mit bohrenden Schmerzen im Hüftgelenk, die bei Belastung schlimmer werden. Er erkältet sich leicht – selbst der kurze Gang zur Mülltonne genüg, um sich eine Erkältung zuzuziehen. Seine zahlreichen Narben und alten Verletzungen reagieren sehr empfindlich auf Wetterumschwünge. Er schwitzt sehr viel, hauptsächlich am Kopf, am Nacken und an den Schultern. Manchmal verspürt er Hitzewallungen, die durch den ganzen Körper ziehen.

Analyse

Mein erster Eindruck von dem Patienten war, dass er potentiell gefährlich sein könnte und dass ich mich ihm besser mit großer Vorsicht nähere. Gleichzeitig war er selbstbewusst, vergnügt und männlich. Er war sehr kommunikativ, erzählte interessant und verstand es, die Aufmerksamkeit seines Zuhörers zu halten. Man konnte in seinen Erzählungen mitfühlen. Der Mann ist mittelgroß, kräftig gebaut und hat einen leichten Bauchansatz. Sein Haar trägt er kurz geschnitten, zum Termin kommt er mit einem Drei-Tage-Bart.

Für mich war es von Anfang an ein klarer Melilotus-Fall. Das Mittel passt sowohl in den spezifischen Kontext als auch zu den charakteristischen Symptomen. Ich bin immer bemüht, diese zwei Aspekte abzudecken und habe damit in meiner Praxis großen Erfolg. Wenn ich feststelle, dass entweder Kontext oder Symptome nicht ins Bild passen, dann ist das Mittel nicht das richtige. Mit Kontext meine ich die Themen des Falles und die Stellung des Mittels oder der Mittelgruppe im größeren Gefüge (Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich).

Bei der Familie der Leguminosae ist mir wiederholt das Thema des scheiternden Unternehmers begegnet, der trotz größter Bemühungen in Armut leben muss. Im vorliegenden Fall hat es der Patient zwar geschafft, ein erfolgreiches Unternehmen zu führen, aber das Thema Armut schwebt wie eine dunkle Wolke über ihm. Die langsame Verdauung, die Schwere und die Blähungen nach den Mahlzeiten bestätigen diese Mittelgruppe.

Ein anderes Mittel, das mir während der Anamnese immer wieder durch den Kopf ging war Nitricum acidum. Bei einem Nitrogenium-Fall, in dem Armut eine Rolle spielt, sollte man entweder an Nitricum acidum denken, oder an die Leguminosae. Die Mittel unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf die Armut. Nitricum acidum wird wütend und verflucht diejenigen, die seinen Reichtum geraubt haben, während die Leguminosae sanfter veranlagt sind und sich immer wieder darum bemühen, die widrigen Umstände zu überwinden. Ein gutes Selbstwertgefühl, Frohsinn, Sozialkompetenz und Kontaktfähigkeit sind typisch für die Stickstoffverbindungen. Bei der Familie der Leguminosen sind diese Stickstoff-Themen am deutlichsten ausgeprägt.

Während der Repertorisierung wurde das spezifische Mittel bestätigt:

NASE; Nasenbluten, Typhus abdominalis, bei (oder NASE, Nasenbluten, Fieber, während, agg.)
ALLGEMEINES; Wetter, Wetterwechsel, agg.

Melilotus ist in beiden Rubriken vertreten. Das Mittel ist bekannt für eine Blutungsneigung, die entsteht, wenn Coumaringlykoside zu Dicumarol umgewandelt werden. Dieser Vorgang kann durch verschiedene Pilzarten ausgelöst werden. Cumarin hat einen charakteristischen, süßlichen Geruch, der an frisch gemähtes Heu erinnert. Das Glykosid wird von der Pflanze wahrscheinlich zur Abwehr von Schädlingen eingesetzt.
In der Geschichte unseres Patienten kann man diese Themen gut erkennen. Als ich die entsprechenden Rubriken für Melilotus ausarbeitet, wurden die Zusammenhänge deutlich:
 


GEMÜT; Zorn, heftig
GEMÜT; Wahnideen; verhaftet werden, er solle
GEMÜT; Furcht; verhaftet zu werden
GEMÜT; Wahnideen; verfolgt zu werden; erwürde verfolgt
GEMÜT; Furcht; Gefahr, vor drohender
GEMÜT; Furcht; Armut, vor
GEMÜT; argwöhnisch, misstrauisch

Behandlungsverlauf
Nachdem ich diese Information ausgearbeitet hatte, hatte ich keine Zweifel mehr bezüglich der Mittelwahl und gab dem Patienten Melilotus C30, ein Globulus, dreimal einzunehmen im Abstand von einer Stunde. Die Mittelgabe erfolgte am 17. April 2012.

Der Patient setzte sofort alle Medikamente ab. Am 4. Und 5. Tag nach der Einnahme des Mittels bekam er heftige Heuschnupfensymptome. Bis zum darauffolgenden Montag waren seine Symptome aber deutlich besser geworden und verschwanden schließlich ganz.

Zwei Wochen später hatte er einen Rückfall, aber Melilotus C30 half ihm nicht wirklich. Ich gab ihm die höchste Potenz, die ich vorrätig hatte, Melilotus 1M.

Nach dieser Gabe hatte der Patient nur noch eine akute Heuschnupfenepisode, als er sich im Sommer in der Nähe einer frisch gemähten Wiese aufhielt. Er nahm keine konventionellen Medikamente mehr, ohne die er vorher nicht zurecht kam. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, seine Medikamente abzusetzen, litte er unter Juckreiz in den Augen, Tränenfluss und Schnupfen. Die Allergologin des Patienten glaubte den Berichten ihres Patienten nicht, bis er ihr anbot, ihren Rasen zu mähen.

Am 17. September 2012 berichtete er mir, der letzte Sommer sei der beste seit 5 Jahren gewesen. Während des ganzen Sommers hatte er nur dreimal Hauschnupfensymptome gehabt, die nach eine Gabe Melilotus 1M jedes mal schnell verschwanden. Atemnot hatte der Patient dabei nicht.

Im Mai 2013 bekam er eine weitere Gabe Melilotus 1M gegen Juckreiz in den Augen. Bis zu unserem letzten Kontakt im März 2014 war der Patient komplett beschwerdefrei.

Anmerkung: Solche Ereignisse waren selbst in der Zeit des Sozialismus nur selten anzutreffen. Die Geschichte dieses Patienten ist in der Tat außergewöhnlich. Bitte zögern Sie nicht, uns hier in der Slowakei zu besuchen!

 

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Fotos: Shutterstock:
Man with umbrella © Marco Antonio
Full length of a depressed criminal sitting behind bars © bikeriderlondon
upset boy against a wall © Mikael Damkier
Allergy, man © Image Point Fr

Kategorie: Fälle
Schlüsselwörter: Pollenallergie, körperliche Misshandlung, seelische Misshandlung, Gefängnisstrafe, Mafia, Furcht vor Armut, Suizidneigung

Die dunkle Wolke der Armut: ein Fall von Melilotus

von Vladimir Petroci


Der 45-jährige Patient, ein Bestattungsunternehmer, kommt wegen einer Pollenallergie in die Sprechstunde. Von April bis September leidet er unter den Symptomen seines Heuschnupfens: Juckreiz in den Augen mit Tränenfluss, Juckreiz in der Nase mit wässrigen Absonderungen und einem Engegefühl im Hals. Er ist oft heiser. Im Frühjahr und Sommer kann er nicht ohne Taschentücher aus dem Haus gehen. Zusätzlich zu den Gräsern verträgt der Patient keine Milchprodukte.

5 Jahre zuvor hatte sich der Mann als Bestattungsunternehmer selbstständig gemacht. Aus finanziellen Gründen hatte er anfangs in seinem Büro gelebt, Geld für eine eigene Wohnung warf das Unternehmen damals noch nicht ab. Es war eine schwere Zeit, besonders der viele Staub in der Firma machte ihm zu schaffen. Damals erkrankte er an einer Lungenentzündung, die er nie richtig auskurierte, weil er sich keine Auszeit vom Beruf leisten konnte. Die Symptome der Lungenentzündung waren Enge- und Erstickungsgefühl im Hals und Nasenbluten. Im Anschluss kamen die allergische Rhinitis und Asthma. Zurzeit leidet der Patient unter Husten und Übelkeit, sobald er mit Staub in Kontakt kommt. Wenn er sich im Beruf körperlich anstrengen muss, bekommt er Atemnot. Er muss hochdosiertes Antihistamin einnehmen, was seine Symptome deutlich lindert. Sobald er das Antihistamin absetzt, werden die Symptome wieder so heftig, dass es 3 Tage dauert bis die erneute Einnahme von Antihistamin wirken kann.


Die Mutter des Patienten war Alkoholikerin. Sie starb an einer Hirnblutung, die durch einen Sturz im Vollrausch verursacht wurde. Wegen seiner Mutter hegt der Patient eine tiefe Abneigung gegen Alkohol. Als Kind wurde der Patient regelmäßig von anderen Jungs verprügelt. Als seine Mutter davon hörte, schlug sie ihren Sohn windelweich, weil er sich das von anderen gefallen lies. Er musste oft Hiebe einstecken, weil er als Kind dürr, schwächlich und untergewichtig war. Im Alter von 11 Jahren wog er gerade mal 15kg, mit 18 brachte er 60kg auf die Waage. In diesem Alter wurde er einmal so sehr von einem anderen Jungen in die Mangel genommen, dass er sich heftig zur Wehr setzen musste und den anderen Jungen dabei verletzte. Dafür bekam er eine Bewährungsstrafe und musste dem Jungen Schadenersatz zahlen.

Seit seiner Kindheit ist der Mann ein Außenseiter und kriminell veranlagt. Mit 15 begann er Motorrad zu fahren, obwohl er keinen Führerschein besaß. Er lieferte sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, wurde aber nie gefasst. Das Motorrad versteckte er in der Wohnung. Nach zwei Jahren wurde er von seiner Mutter bei der Polizei angezeigt und während seiner Festnahme von den Polizisten misshandelt.

Als Jugendlicher besuchte er die Berufsschule und bekam 90 Kronen (umgerechnet etwa 13 Euro) Taschengeld im Monat. Das meiste davon nahm ihm sein Vater weg. Sein Vater war ein Taugenichts, der sich nie um seine Familie kümmerte. Die Familie war schrecklich arm, es gab nicht genug zu essen und kein Geld für Lebensmittel oder Kleidung. Der Patient und seine Brüder waren gezwungen, die Schuhe der Nachbarn zu stehlen, um nicht barfuss gehen zu müssen.

Der Vater brach seinem Sohn einmal die Nase, weil er ihn verdächtigte, 2 Kronen (30 Cent) gestohlen zu haben, obwohl einer seiner Brüder das Geld genommen hatte. Der Bruder starb einige Zeit später an einer Embolie, die sich in Folge multipler Frakturen entwickelte: Die Mafia hatte ihm beide Beine gebrochen, damit er nicht gegen sie vor Gericht aussagen würde. Ein zweiter Bruder unterhält eine Inzestbeziehung zu seiner eigenen Tochter und der dritte Bruder stürzte von einem Dach und ist seitdem querschnittgelähmt. Es besteht kein Kontakt zu den Geschwistern.

Eine Zeit lang arbeitete der Patient in einer Fabrik, wo er sich eine schwere Dermatomykose an den Füßen zuzog. Zeitweilig hat er ringförmige Mykosen am Körper.

Im Alter von 18 Jahren wurde der Patient wegen Diebstahls zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er auf der Arbeit einen Werkzeugkoffer gestohlen hatte. Wegen seiner Vorstrafe (Körperverletzung) musste er seine Gefängnisstrafe sofort antreten. Eigentlich sollte er für 3 Jahre hinter Gitter, aber sein Vater intervenierte und die Strafe wurde verkürzt. Es war das erste Mal, dass sich sein Vater für ihn eingesetzt hatte. Der Bruder seines Vaters war ein hochrangiger Offizier beim Militär und legte ein gutes Wort für seinen Neffen ein. Im Zuge seiner Verhaftung wurde der Patient jedoch schwer misshandelt und lebensgefährlich verletzt in einer Auffangzelle liegen gelassen. Gegen alle Erwartungen überlebte er diesen Vorfall, nur sein Haar fiel aufgrund des massiven Stresses aus.
Während der Haftstrafe versuchten mehrere Gefängniswärter ihm den Selbstmord eines ‚Zigeuners‘ in die Schuhe zu schieben. Bei seiner Entlassung wog der Mann 90kg – er hatte im Gefängnis hart trainiert. Das Geld, das er mit seiner Arbeit im Gefängnis verdiente, schickte er seiner Familie nach Hause.

Beim Militärdienst erging es ihm kaum besser: Während einer Übung riss seine Achillessehne, der Offizier befahl ihm jedoch, weiter zu marschieren. Die verletzte Sehne konnte erst am Abend genäht werden. Nach der notdürftigen Versorgung der Verletzung musste er sofort wieder seinen Dienst antreten und Malerarbeiten verrichten. Er warf seine Krücke nach dem diensthabenden Offizier und versuchte durch ein Fenster zu fliehen. Dabei erlitt er erneut schwerste Verletzungen: Glassplitter schnitten ihm den Arm auf und zerfetzten die Bauchdecke, sodass die Gedärme herausquollen. Als wäre das nicht genug, wurde der Krankenwagen, der ihn in das Krankenhaus bringen sollte, in einen Unfall verwickelt und der Patient mitsamt Trage während des Transports aus dem Wagen geschleudert. Er erlitt einen Kieferbruch. Ein ziviler Krankenwagen brachte ihn schließlich in ein Krankenhaus. Aufgrund seiner Verletzungen konnte er keine Nahrung zu sich nehmen, wurde aber von einer Krankenschwester beschuldigt, absichtlich nicht essen zu wollen. Folglich wurde er in die Psychiatrie eingewiesen und mit starken Psychopharmaka behandelt. Wegen der starken Medikamente begann der Patient einzunässen, wofür ihm wieder Absicht unterstellt wurde. Erst als er sich einem diensthabenden Oberarzt anvertrauen konnte, seine Geschichte schilderte und diesem von seinen zahlreichen Unfällen erzählte, konnte er die psychiatrische Abteilung verlassen.

Als er schließlich aus der Armee entlassen wurde, begann er eine Lehre als Drucker, verlor aber die Stelle recht bald wieder, als die Firma in finanzielle Schwierigkeiten geriet.  Danach war er lange arbeitslos, bis ihm das Arbeitsamt schließlich eine Stelle als Bestatter vermittelte. Er machte seine Arbeit gut und konnte sich in der Firma hocharbeiten. Er begann eine Affäre mit seiner Chefin und wollte die Firma nach seinen Vorstellungen umstrukturieren. Als er seine Ideen nicht durchsetzen konnte, verlies er seine Geliebte und deren Firma und gründete ein eigenes Bestattungsinstitut. Jetzt arbeitet er in Konkurrenz zu seiner alten Firma und bietet schönere und billigere Beerdigungen an. In Bezug auf seine Arbeit beschreibt er sich selbst als Begleiter der Verstorbenen auf dem Weg in eine andere Welt.


Der Patient ist mit seinem Bestattungsunternehmen sehr erfolgreich geworden, was das Leben für ihn manchmal aber noch härter werden lies als vorher. Einmal wurde er von zwei Männern in einem Auto verfolgt und angeschossen. Glücklicherweise blieb er unverletzt, bei seinem Wagen gingen Fenster und Rahmen zu Bruch. Weil er sich nicht einschüchtern ließ und sein Institut immer weiter ausbaute, bekam er immer mehr Warnungen, unter anderem wurde er von maskierten Männern auf seinem Firmengelände angegriffen und zusammengeschlagen. Mittlerweile ist er sehr vorsichtig geworden und wägt sorgfältig ab, mit wem er sich einlässt.

Der Patient isst gerne und im Grunde genommen alles. Er mag reichhaltige und fette Mahlzeiten, z.B. Eisbein mit Kohl. Nach dem Essen fühlt er sich jedoch träge und aufgebläht. Er verdaut nur langsam. Er fühlt sich schwer, so als hätte er einen Stein im Magen. Weil er so viel isst, neigt er zu Übergewicht, es ist eine Art Kompensationsverhalten für seine schwere Jugend, in der er nie genug zu essen hatte. Sein Übergewicht verschafft ihm außerdem Respekt. Früher fühlte er sich ständug gedemütigt.

Der Patient verträgt keine Milch. Von pasteurisierter Milch bekommt er Durchfall, Rohmilch verträgt er dagegen gut. Er mag Reis, Gulasch und Wurst. Als Kind hatte er sich einmal geweigert, eine Tomatensuppe zu essen, weil ihn die Farbe an Blut erinnerte. Seine Mutter wurde daraufhin sehr wütend und warf ein Messer nach dem Vater, den das Messer aber verfehlte. Es traf den Patienten an der Stirn, die Narbe davon ist heute noch zu sehen.

Trotz aller Unfälle und körperlichen Verletzungen ist die größte Angst des Patienten die vor der Armut. Zwar ist er mittlerweile auch ein ausgeglichener Autofahrer geworden, die größte Veränderung hat jedoch im seelisch-psychischen Bereich stattgefunden. Seine Erfahrungen haben ihn vorsichtig werden lassen und er verabscheut Gewalt. Als junger Mann war er jähzornig und aufbrausend gewesen, ist oft wegen Kleinigkeiten explodiert. Fast regelmäßig wurde er misshandelt und geschlagen. „Heute würde ich mich ohne Widerstand verprügeln lassen, nur um nicht ins Gefängnis gehen zu müssen.“

Er würde gern Jura studieren und Rechtsanwalt werden. Er hat ein Gesetzbuch zu Hause, in dem er regelmäßig und gerne liest. Der Patient ist überzeugt, dass das Gefängnis ein Mann aus ihm gemacht hat.

Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe durchlebte der Mann eine depressive Phase mit Suizidgedanken. Damals lief es in seinem Bestattungsunternehmen auch nicht so gut.

Mit seiner zweiten Frau ist er sehr glücklich. Sie ist 14 Jahre jünger als er und tut ihm gut. Durch ihren Einfluss ist er ruhiger und ausgeglichener geworden.

Der Patient leidet außerdem unter einer fortgeschrittenen Coxarthrose mit bohrenden Schmerzen im Hüftgelenk, die bei Belastung schlimmer werden. Er erkältet sich leicht – selbst der kurze Gang zur Mülltonne genüg, um sich eine Erkältung zuzuziehen. Seine zahlreichen Narben und alten Verletzungen reagieren sehr empfindlich auf Wetterumschwünge. Er schwitzt sehr viel, hauptsächlich am Kopf, am Nacken und an den Schultern. Manchmal verspürt er Hitzewallungen, die durch den ganzen Körper ziehen.

Analyse

Mein erster Eindruck von dem Patienten war, dass er potentiell gefährlich sein könnte und dass ich mich ihm besser mit großer Vorsicht nähere. Gleichzeitig war er selbstbewusst, vergnügt und männlich. Er war sehr kommunikativ, erzählte interessant und verstand es, die Aufmerksamkeit seines Zuhörers zu halten. Man konnte in seinen Erzählungen mitfühlen. Der Mann ist mittelgroß, kräftig gebaut und hat einen leichten Bauchansatz. Sein Haar trägt er kurz geschnitten, zum Termin kommt er mit einem Drei-Tage-Bart.

Für mich war es von Anfang an ein klarer Melilotus-Fall. Das Mittel passt sowohl in den spezifischen Kontext als auch zu den charakteristischen Symptomen. Ich bin immer bemüht, diese zwei Aspekte abzudecken und habe damit in meiner Praxis großen Erfolg. Wenn ich feststelle, dass entweder Kontext oder Symptome nicht ins Bild passen, dann ist das Mittel nicht das richtige. Mit Kontext meine ich die Themen des Falles und die Stellung des Mittels oder der Mittelgruppe im größeren Gefüge (Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich).

Bei der Familie der Leguminosae ist mir wiederholt das Thema des scheiternden Unternehmers begegnet, der trotz größter Bemühungen in Armut leben muss. Im vorliegenden Fall hat es der Patient zwar geschafft, ein erfolgreiches Unternehmen zu führen, aber das Thema Armut schwebt wie eine dunkle Wolke über ihm. Die langsame Verdauung, die Schwere und die Blähungen nach den Mahlzeiten bestätigen diese Mittelgruppe.

Ein anderes Mittel, das mir während der Anamnese immer wieder durch den Kopf ging war Nitricum acidum. Bei einem Nitrogenium-Fall, in dem Armut eine Rolle spielt, sollte man entweder an Nitricum acidum denken, oder an die Leguminosae. Die Mittel unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf die Armut. Nitricum acidum wird wütend und verflucht diejenigen, die seinen Reichtum geraubt haben, während die Leguminosae sanfter veranlagt sind und sich immer wieder darum bemühen, die widrigen Umstände zu überwinden. Ein gutes Selbstwertgefühl, Frohsinn, Sozialkompetenz und Kontaktfähigkeit sind typisch für die Stickstoffverbindungen. Bei der Familie der Leguminosen sind diese Stickstoff-Themen am deutlichsten ausgeprägt.

Während der Repertorisierung wurde das spezifische Mittel bestätigt:

NASE; Nasenbluten, Typhus abdominalis, bei (oder NASE, Nasenbluten, Fieber, während, agg.)
ALLGEMEINES; Wetter, Wetterwechsel, agg.

Melilotus ist in beiden Rubriken vertreten. Das Mittel ist bekannt für eine Blutungsneigung, die entsteht, wenn Coumaringlykoside zu Dicumarol umgewandelt werden. Dieser Vorgang kann durch verschiedene Pilzarten ausgelöst werden. Cumarin hat einen charakteristischen, süßlichen Geruch, der an frisch gemähtes Heu erinnert. Das Glykosid wird von der Pflanze wahrscheinlich zur Abwehr von Schädlingen eingesetzt.
In der Geschichte unseres Patienten kann man diese Themen gut erkennen. Als ich die entsprechenden Rubriken für Melilotus ausarbeitet, wurden die Zusammenhänge deutlich:
 


GEMÜT; Zorn, heftig
GEMÜT; Wahnideen; verhaftet werden, er solle
GEMÜT; Furcht; verhaftet zu werden
GEMÜT; Wahnideen; verfolgt zu werden; erwürde verfolgt
GEMÜT; Furcht; Gefahr, vor drohender
GEMÜT; Furcht; Armut, vor
GEMÜT; argwöhnisch, misstrauisch

Behandlungsverlauf
Nachdem ich diese Information ausgearbeitet hatte, hatte ich keine Zweifel mehr bezüglich der Mittelwahl und gab dem Patienten Melilotus C30, ein Globulus, dreimal einzunehmen im Abstand von einer Stunde. Die Mittelgabe erfolgte am 17. April 2012.

Der Patient setzte sofort alle Medikamente ab. Am 4. Und 5. Tag nach der Einnahme des Mittels bekam er heftige Heuschnupfensymptome. Bis zum darauffolgenden Montag waren seine Symptome aber deutlich besser geworden und verschwanden schließlich ganz.

Zwei Wochen später hatte er einen Rückfall, aber Melilotus C30 half ihm nicht wirklich. Ich gab ihm die höchste Potenz, die ich vorrätig hatte, Melilotus 1M.

Nach dieser Gabe hatte der Patient nur noch eine akute Heuschnupfenepisode, als er sich im Sommer in der Nähe einer frisch gemähten Wiese aufhielt. Er nahm keine konventionellen Medikamente mehr, ohne die er vorher nicht zurecht kam. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, seine Medikamente abzusetzen, litte er unter Juckreiz in den Augen, Tränenfluss und Schnupfen. Die Allergologin des Patienten glaubte den Berichten ihres Patienten nicht, bis er ihr anbot, ihren Rasen zu mähen.

Am 17. September 2012 berichtete er mir, der letzte Sommer sei der beste seit 5 Jahren gewesen. Während des ganzen Sommers hatte er nur dreimal Hauschnupfensymptome gehabt, die nach eine Gabe Melilotus 1M jedes mal schnell verschwanden. Atemnot hatte der Patient dabei nicht.

Im Mai 2013 bekam er eine weitere Gabe Melilotus 1M gegen Juckreiz in den Augen. Bis zu unserem letzten Kontakt im März 2014 war der Patient komplett beschwerdefrei.

Anmerkung: Solche Ereignisse waren selbst in der Zeit des Sozialismus nur selten anzutreffen. Die Geschichte dieses Patienten ist in der Tat außergewöhnlich. Bitte zögern Sie nicht, uns hier in der Slowakei zu besuchen!

 

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Fotos: Shutterstock:
Man with umbrella © Marco Antonio
Full length of a depressed criminal sitting behind bars © bikeriderlondon
upset boy against a wall © Mikael Damkier
Allergy, man © Image Point Fr

Kategorie: Fälle
Schlüsselwörter: Pollenallergie, körperliche Misshandlung, seelische Misshandlung, Gefängnisstrafe, Mafia, Furcht vor Armut, Suizidneigung





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