„Es ist mir alles zu viel“: 3 Fälle von Vernix caseosa

Von Alex Leupen und Deborah Collins

 

Das Arzneimittel Vernix caseosa ist eine Entdeckung des holländischen Arztes Tinus Smits, der eine Reihe neuer Arzneimittel in die Homöopathie eingeführt hat. Als Vernix caseosa oder Käseschmiere bezeichnet man den weißen, etwas schmierigen Belag auf der Haut Neugeborener, der sich vor allem in den Hautfalten ansammelt. Ihr Fehlen zum Zeitpunkt der Geburt deutet auf eine Übertragung des Kindes hin.

 

Zusammensetzung

Die Käseschmiere bildet sich ab der 20. Schwangerschaftswoche. Sie besteht zu 80% aus Wasser, zu 10% aus Fettsäuren und zu 10% aus Proteinen. Die öligen Anteile werden von den Talgdrüsen produziert, die bei Säuglingen besonders aktiv sind. Der Großteil der Proteine spielt eine wichtige Rolle bei der natürlichen Immunabwehr, zum Beispiel das Alpha-Defensin (HNP ‚human neutrophil peptides‘).

 

Funktion

Man geht heute davon aus, dass die Käseschmiere spezifisch für uns Menschen ist. Sie dient als Schutzmantel für den empfindlichen Fötus und soll verhindern, dass dieser von Fruchtwasser und Mekonium angegriffen werden kann. Außerdem lassen die stark antibakteriellen Proteine der Käseschmiere vermuten, dass sie auch nach der Geburt vor Infektionen schützt.

 

 

Das homöopathische Arzneimittel

Tinus Smits beschreibt die Besonderheiten des Arzneimittelbildes von Vernix wie folgt:

  • Das Mittel ist Phosphor und Lac maternum sehr ähnlich.

  • Sehr verletzliche Menschen, die sich nicht ausreichend gegen ihre Umwelt abgrenzen können. Sie sind hochsensibel und haben das Gefühl „nackt“ zu sein, der Schutzmantel – die Haut – ist unzureichend ausgebildet.

  • Diese Menschen empfinden die Außenwelt als Bedrohung. Sie sind so durchlässig, dass jeder Eindruck, jeder Reiz direkt nach innen geht. Als Folge dessen wird die Außenwelt zu intensiv wahrgenommen. Sie reagieren überempfindlich auf alles.

  • Sie haben Schuldgefühle und glauben, nicht genug für andere zu tun. Sie können nicht „Nein“ sagen.

  • Sie reagieren hochempfindlich auf Geräusche und Gerüche.

  • Sie haben das Verlangen gehalten oder eingewickelt zu werden.

  • Sie fühlen sich zerbrechlich.

  • Menschen, die dieses Mittel brauchen, müssen lernen, mit ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt zu treten.

  • Diese Menschen sind nicht im Gleichgewicht, nicht fokussiert. Sie ruhen nicht in sich, sondern richten ihren Fokus zu sehr auf die Außenwelt. Das Leid anderer Menschen und die Konflikte in der Welt allgemein belasten sie stark, da sie nicht in der Lage sind, sich abzugrenzen.

 

Fallbeispiel 1: „Alles dringt in mich ein“ von Deborah Collins

Bei der Patientin handelt es sich um eine 20-jährige Maorifrau, Mutter von zwei Kindern, die mit ihrer eigenen Mutter in die Sprechstunde kommt. Beim Erzählen ihrer Symptome bricht sie in Tränen aus: “Mir ist einfach alles zu viel. Ich muss sogar Antidepressiva nehmen, weil ich nicht mehr kann. Ich komme weder mit meinen Kindern klar, noch kann ich mich um den Haushalt kümmern, sogar Kleinigkeiten überfordern mich. Meine Mutter muss mir oft helfen. Aber selbst das stört mich – mir geht einfach alles auf die Nerven. Und das ist nicht alles – jede Gefühlsregung, auch die Gefühle von anderen Leuten, dringt ungehindert in mich ein. Wenn ich eine Straße hinunterlaufe oder einkaufen gehe, dann habe ich das Gefühl, dass alles, was ich sehe, höre, rieche oder fühle – also auch die Gefühle von anderen Menschen – direkt in mich eindringen. Es fühlt sich an, als hätte ich keine Haut. Nichts bleibt draußen, ich kann mich nicht schützen.“

 

Sie ist eine ausdrucksstarke Frau, wechselt problemlos zwischen Lachen und Weinen und erzählt ihre Geschichte mithilfe einer starken Gestik: Sie scheint sich ständig mit ihren Händen schützen zu wollen. Obwohl sie Mutter zweier Kinder ist, hat sie selbst etwas Kindliches an sich.

„Ich kann mich nicht um meine Kinder kümmern. Wenn sie weinen, kann ich ihren Schmerz förmlich spüren und ich kann es nicht ertragen. Am liebsten würde ich mich dann auf das Bett legen und mich in eine Decke einrollen bis alles vorbei ist. Ich kann mich zu nichts motivieren; ich muss mich überwinden morgens aufzustehen und meinen Tag zu organisieren. Auch für meine Ehe ist das nicht gut, wir haben ernste Probleme.“

„Immer wenn meine Mutter ihre kranke Freundin besucht und anschließend zu mir kommt, kann ich spüren, wie es meiner Mutter dort ergangen ist und wie sehr ihre Freundin unter ihrer Krankheit leidet. Ich werde dann von Gefühlen überwältigt. Es endet immer damit, dass ich in Tränen ausbreche oder herumschreie. Mittlerweile trinke ich auch zu viel Alkohol. Ich versuche meine Probleme in Alkohol zu ertränken und habe richtig Angst, dass das einmal zum Problem werden könnte. Ich komme aber nicht mehr klar, ich will einfach nicht mehr mit diesen vielen Gefühlen leben.“

 

An dieser Stelle ergriff die Mutter der Patientin zum ersten Mal das Wort: „Als ich mit ihr schwanger war, wusste ich, dass es Zwillinge werden und eines davon sterben würde. Als meine Tochter dann geboren wurde, gab sie nach der Geburt einen herzzerreißenden Schrei von sich. Ich habe noch nie ein Neugeborenes so schreien gehört. Ich wusste aber, dass sie um ihre verstorbene Schwester trauert. Eigentlich kam sie zu früh auf die Welt, hatte aber überhaupt keine Käseschmiere – sie war einfach rot und verschrumpelt und so reizbar – sie war untröstlich und weinte die ganze Zeit.“

 

Die Mutter hatte mir soeben den Hinweis auf das richtige Arzneimittel für ihre Tochter gegeben: Vernix caseosa, der schmierige Schutzfilm, der das Baby im Mutterleib umgibt. Als ich der Frau erzählte, welches Mittel ich ihr geben würde, war sie sehr angetan und sagte: „Ja, das ist genau, was ich brauche – einen Puffer, der mich beschützt.“

 

Verschreibung: Eine Gabe Vernix caseosa C200 wirkte Wunder. Die Patientin kam einen Monat später freudestrahlend wieder. „Ich habe mein Leben wieder im Griff. Ich komme morgens aus dem Bett und kann mich um den Haushalt kümmern. Ich habe jetzt diesen Puffer, der mir hilft, meine innere Mitte zu finden und verhindert, dass ich alles, was außen passiert, gleich aufnehme. Ich trinke auch keinen Alkohol mehr, ich brauche das einfach nicht mehr. Die Antidepressiva habe ich auch abgesetzt – sie haben mir ja nicht wirklich geholfen, sondern alles nur noch schlimmer gemacht.“

 

Eine einzige Gabe des Mittels heilte diese Patientin. In manchen Fällen sind jedoch mehrere Gaben nötig, um eine Heilung zu bewirken. Danach kam die Patientin ab und zu mit ihren Kindern in meine Praxis, brauchte aber keine Termine mehr für sich selbst. Eine Wiederholung des Mittels war nicht nötig.

Einige Zeit später nahm sie die Behandlung für sich selbst wieder auf. Dieses Mal war das Bild aber ein anderes. Die Patientin sprach nicht mehr davon, dass „alles in sie eindringt“ und wirkte gereift und erwachsen. Das Folgemittel war Calcium muriaticum. Es wurde gegeben, weil sich die Patientin sehr unsicher fühlte, in Bezug auf sich selbst und auf ihre Fähigkeiten als Mutter. Sie machte sich große Gedanken darüber, was andere von ihr dachten. „Ich habe mir schon immer Gedanken darüber gemacht, was andere von mir halten. Ob sie glauben, dass ich es wirklich schaffe. Aber jetzt ist es nur noch dieser eine Punkt, der mich stört. Es ist nicht mehr so, dass ich von allem überwältigt werde. Ich glaube, dass ich endlich erwachsen werde.“ Ihre Mutter konnte das, was ihre Tochter erzählte, nur bestätigen. Sie berichtete mir, dass sie ihre Tochter kaum noch im Haushalt unterstützen musste, wie sie das früher regelmäßig getan hatte.

Auch in diesem Fall hatte Vernix einen essentiellen Aspekt geheilt und den Weg für das Folgemittel geebnet, wobei es sich in diesem Fall um ein eher ‚gewöhnliches‘ Mittel handelte. Das Mittel Calcium muriaticum spricht die Beziehungsebene an, wo sich die Dinge nicht mehr um Probleme drehen, die im Mutterleib entstanden sind.

 

Fallbeispiel 2: „Zu zerbrechlich“ von Alex Leupen

Davids Mutter bringt ihren Sohn in die Sprechstunde, weil er sich nicht gut entwickelt. Vor mir steht ein zart gebauter 4-jähriger Junge, der mich mit großen Augen anschaut. Das Wort ‚zerbrechlich‘ kommt mir in den Sinn. Seit vier Wochen besucht der Junge die Vorschule und hat großen Stress. Er ist sehr schüchtern und wagt es nicht einmal, seinem Lehrer die Hand zu geben. Manchmal steht er so unter Druck, dass er mit hängenden Schultern läuft. Sobald er sein Klassenzimmer betritt, stellt er sich in eine Ecke und traut sich nicht, mit Kindern zu spielen, die er nicht kennt. Er meldet sich nie freiwillig zu Wort. Im Kindergarten war er sehr beliebt gewesen und hatte oft den Clown gespielt. Hier, in einer neuen Umgebung, ist er in sich gekehrt.

 

Ich frage die Mutter nach ihrer Schwangerschaft. Sie hatte viele Beschwerden, vor allem Schwangerschaftserbrechen und allgemein Probleme mit dem Becken. David war 11 Tage übertragen, als die Fruchtblase spontan platzte. Weil sich Mekonium im Fruchtwasser befand, wurde die Mutter sofort in ein Krankenhaus eingewiesen. Sie bekam eine Narkose und bei 8cm kam es zum Wehenstillstand. Die Mutter erzählte, sie habe „ihn aus eigener Kraft herausgedrückt“. Anschließend musste die Plazenta unter Narkose entfernt werden, die Mutter hatte außerdem einen starken Dammriss.

 

Dieser Fall lässt mich sofort an Opium denken, dennoch fühlte sich das nicht richtig an. David fühlt sich in der Schule verunsichert, ist sehr schüchtern und zieht sich in sich selbst zurück. Die Anspannung lässt ihn ganz steif werden. Ich hatte den Eindruck, dieser kleine Junge könne eine Pufferzone um ihn herum als Schutz vor dieser Reizüberflutung gut gebrauchen.

 

Verschreibung: Vernix C30, 2 Globuli pro Woche.

 

Follow-up: Letzte Woche sah ich ihn wieder, vier Wochen nach der Erstanamnese. Seine Mutter berichtet mir, dass er jetzt ein völlig anderes Kind sei. In der Schule fühle er sich wohl, er könne seinem Lehrer die Hand geben und spiele auch mit den anderen Kindern. Der Junge macht einen entspannten Eindruck und man kann durchaus sagen, dass in der Schule mittlerweile alles glatt läuft.

 

Fallbeispiel 3: „Alles geht mir auf die Nerven“ von Alex Leupen

Die 37-jährige Frau R. kommt im Oktober 2009 wegen ihrer Nervosität in die Sprechstunde. Sie ist schon längere Zeit wegen seelischer Beschwerden bei mir in Behandlung und hatte gut auf Vanadium angesprochen. Sie ist Mutter eines kleinen Kindes und führt gemeinsam mit ihrem Mann eine Firma. Sie fängt sofort an zu weinen und erzählt: „Ich bin nervlich am Ende; alles geht mir auf die Nerven“. Ihre Tochter erkrankt ständig an einer Mittelohrentzündung und sie bekommt in letzter Zeit nur wenig Schlaf. Sie hätte gern noch ein Kind, aber bislang will es mit einer zweiten Schwangerschaft nicht so recht klappen. Die Patientin fühlt sich oft depressiv. Ihre Tochter verlangt viel Aufmerksamkeit von ihr und sie hat kaum noch Zeit für das Geschäft. Ihre eigene Mutter, die gegenwärtig unter einer bipolaren Störung leidet, hatte nach der Geburt ihrer Tochter eine schwere Depression und konnte sie nicht versorgen. In ihren ersten Lebensmonaten wurde sie von ihrer Tante betreut, die in ihrem Leben eine große Rolle spielt. Die Tante ist für sie viel mehr Mutter gewesen als ihre eigene es jemals war.

 

Verschreibung: Vernix C30, 2 Globuli pro Woche: Vernix soll hier als ‚Balsam für die Seele‘ wirken. Die Patientin erweckt den Anschein, als bräuchte sie einen Schutzmantel. Das Muttersein ist eine große Herausforderung für sie, vor allem, weil sie am Lebensanfang nicht von ihrer eigenen Mutter versorgt werden konnte.

 

Follow-up: Sechs Wochen später kommt sie wieder und berichtet, dass sie sich stärker fühlt, ihre Gefühle sind stabiler geworden. Sie möchte das Mittel noch einmal verschrieben bekommen. Im März 2012 kommt sie wegen einer leichten Sinusitis, die über dem rechten Auge Schmerzen verursacht, ähnlich wie Zahnschmerzen. Emotional geht es ihr immer noch gut. Ich verschreibe ihr Lac maternum 200K, an zwei Tagen hintereinander einzunehmen. Nach der zweiten Gabe verschwinden die Symptome dauerhaft. Vor Kurzen bat die Patientin mich erneut um Unterstützung, diesmal möchte sie mit dem Rauchen aufhören. Im Großen und Ganzen fühlt sie sich stabil und ausgeglichen – körperlich und seelisch.

 

Vernix caseosa gebe ich häufig als interkurrentes Mittel, wenn das Kind oder der Erwachsene sich in einem Zustand der erhöhten Sensibilität befindet: der Patient ist hochgradig durchlässig – alles dringt ein und geht auf die Nerven. Es ist die Situation eines kleinen schutzlosen Kindes in der Krippe. Vernix hat sich in diesen Fällen als ‚Balsam für die Seel‘ bewährt – es legt einen Schutzmantel über den bedürftigen Menschen. Man kann auch an ein Kind denken, das frisch in die Schule gekommen ist und die ersten Wochen überstehen muss. Oder an eine Frau, die gerade ein Baby geboren hat, welches keine Ruhe findet und die ganze Zeit schreit.

 

Fotos:

Flickr: Fragile; Milknosugar; Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic
Flickr; Something's wrong; Adrien Leguay; Attribution-NoDerivs 2.0 Generic

 

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: schutzlos, nackt, verletzlich, überempfindlich, hochsensibel, überreizt

Mittel: Vernix caseosa

 

„Es ist mir alles zu viel“: 3 Fälle von Vernix caseosa

Von Alex Leupen und Deborah Collins

 

Das Arzneimittel Vernix caseosa ist eine Entdeckung des holländischen Arztes Tinus Smits, der eine Reihe neuer Arzneimittel in die Homöopathie eingeführt hat. Als Vernix caseosa oder Käseschmiere bezeichnet man den weißen, etwas schmierigen Belag auf der Haut Neugeborener, der sich vor allem in den Hautfalten ansammelt. Ihr Fehlen zum Zeitpunkt der Geburt deutet auf eine Übertragung des Kindes hin.

 

Zusammensetzung

Die Käseschmiere bildet sich ab der 20. Schwangerschaftswoche. Sie besteht zu 80% aus Wasser, zu 10% aus Fettsäuren und zu 10% aus Proteinen. Die öligen Anteile werden von den Talgdrüsen produziert, die bei Säuglingen besonders aktiv sind. Der Großteil der Proteine spielt eine wichtige Rolle bei der natürlichen Immunabwehr, zum Beispiel das Alpha-Defensin (HNP ‚human neutrophil peptides‘).

 

Funktion

Man geht heute davon aus, dass die Käseschmiere spezifisch für uns Menschen ist. Sie dient als Schutzmantel für den empfindlichen Fötus und soll verhindern, dass dieser von Fruchtwasser und Mekonium angegriffen werden kann. Außerdem lassen die stark antibakteriellen Proteine der Käseschmiere vermuten, dass sie auch nach der Geburt vor Infektionen schützt.

 

 

Das homöopathische Arzneimittel

Tinus Smits beschreibt die Besonderheiten des Arzneimittelbildes von Vernix wie folgt:

  • Das Mittel ist Phosphor und Lac maternum sehr ähnlich.

  • Sehr verletzliche Menschen, die sich nicht ausreichend gegen ihre Umwelt abgrenzen können. Sie sind hochsensibel und haben das Gefühl „nackt“ zu sein, der Schutzmantel – die Haut – ist unzureichend ausgebildet.

  • Diese Menschen empfinden die Außenwelt als Bedrohung. Sie sind so durchlässig, dass jeder Eindruck, jeder Reiz direkt nach innen geht. Als Folge dessen wird die Außenwelt zu intensiv wahrgenommen. Sie reagieren überempfindlich auf alles.

  • Sie haben Schuldgefühle und glauben, nicht genug für andere zu tun. Sie können nicht „Nein“ sagen.

  • Sie reagieren hochempfindlich auf Geräusche und Gerüche.

  • Sie haben das Verlangen gehalten oder eingewickelt zu werden.

  • Sie fühlen sich zerbrechlich.

  • Menschen, die dieses Mittel brauchen, müssen lernen, mit ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt zu treten.

  • Diese Menschen sind nicht im Gleichgewicht, nicht fokussiert. Sie ruhen nicht in sich, sondern richten ihren Fokus zu sehr auf die Außenwelt. Das Leid anderer Menschen und die Konflikte in der Welt allgemein belasten sie stark, da sie nicht in der Lage sind, sich abzugrenzen.

 

Fallbeispiel 1: „Alles dringt in mich ein“ von Deborah Collins

Bei der Patientin handelt es sich um eine 20-jährige Maorifrau, Mutter von zwei Kindern, die mit ihrer eigenen Mutter in die Sprechstunde kommt. Beim Erzählen ihrer Symptome bricht sie in Tränen aus: “Mir ist einfach alles zu viel. Ich muss sogar Antidepressiva nehmen, weil ich nicht mehr kann. Ich komme weder mit meinen Kindern klar, noch kann ich mich um den Haushalt kümmern, sogar Kleinigkeiten überfordern mich. Meine Mutter muss mir oft helfen. Aber selbst das stört mich – mir geht einfach alles auf die Nerven. Und das ist nicht alles – jede Gefühlsregung, auch die Gefühle von anderen Leuten, dringt ungehindert in mich ein. Wenn ich eine Straße hinunterlaufe oder einkaufen gehe, dann habe ich das Gefühl, dass alles, was ich sehe, höre, rieche oder fühle – also auch die Gefühle von anderen Menschen – direkt in mich eindringen. Es fühlt sich an, als hätte ich keine Haut. Nichts bleibt draußen, ich kann mich nicht schützen.“

 

Sie ist eine ausdrucksstarke Frau, wechselt problemlos zwischen Lachen und Weinen und erzählt ihre Geschichte mithilfe einer starken Gestik: Sie scheint sich ständig mit ihren Händen schützen zu wollen. Obwohl sie Mutter zweier Kinder ist, hat sie selbst etwas Kindliches an sich.

„Ich kann mich nicht um meine Kinder kümmern. Wenn sie weinen, kann ich ihren Schmerz förmlich spüren und ich kann es nicht ertragen. Am liebsten würde ich mich dann auf das Bett legen und mich in eine Decke einrollen bis alles vorbei ist. Ich kann mich zu nichts motivieren; ich muss mich überwinden morgens aufzustehen und meinen Tag zu organisieren. Auch für meine Ehe ist das nicht gut, wir haben ernste Probleme.“

„Immer wenn meine Mutter ihre kranke Freundin besucht und anschließend zu mir kommt, kann ich spüren, wie es meiner Mutter dort ergangen ist und wie sehr ihre Freundin unter ihrer Krankheit leidet. Ich werde dann von Gefühlen überwältigt. Es endet immer damit, dass ich in Tränen ausbreche oder herumschreie. Mittlerweile trinke ich auch zu viel Alkohol. Ich versuche meine Probleme in Alkohol zu ertränken und habe richtig Angst, dass das einmal zum Problem werden könnte. Ich komme aber nicht mehr klar, ich will einfach nicht mehr mit diesen vielen Gefühlen leben.“

 

An dieser Stelle ergriff die Mutter der Patientin zum ersten Mal das Wort: „Als ich mit ihr schwanger war, wusste ich, dass es Zwillinge werden und eines davon sterben würde. Als meine Tochter dann geboren wurde, gab sie nach der Geburt einen herzzerreißenden Schrei von sich. Ich habe noch nie ein Neugeborenes so schreien gehört. Ich wusste aber, dass sie um ihre verstorbene Schwester trauert. Eigentlich kam sie zu früh auf die Welt, hatte aber überhaupt keine Käseschmiere – sie war einfach rot und verschrumpelt und so reizbar – sie war untröstlich und weinte die ganze Zeit.“

 

Die Mutter hatte mir soeben den Hinweis auf das richtige Arzneimittel für ihre Tochter gegeben: Vernix caseosa, der schmierige Schutzfilm, der das Baby im Mutterleib umgibt. Als ich der Frau erzählte, welches Mittel ich ihr geben würde, war sie sehr angetan und sagte: „Ja, das ist genau, was ich brauche – einen Puffer, der mich beschützt.“

 

Verschreibung: Eine Gabe Vernix caseosa C200 wirkte Wunder. Die Patientin kam einen Monat später freudestrahlend wieder. „Ich habe mein Leben wieder im Griff. Ich komme morgens aus dem Bett und kann mich um den Haushalt kümmern. Ich habe jetzt diesen Puffer, der mir hilft, meine innere Mitte zu finden und verhindert, dass ich alles, was außen passiert, gleich aufnehme. Ich trinke auch keinen Alkohol mehr, ich brauche das einfach nicht mehr. Die Antidepressiva habe ich auch abgesetzt – sie haben mir ja nicht wirklich geholfen, sondern alles nur noch schlimmer gemacht.“

 

Eine einzige Gabe des Mittels heilte diese Patientin. In manchen Fällen sind jedoch mehrere Gaben nötig, um eine Heilung zu bewirken. Danach kam die Patientin ab und zu mit ihren Kindern in meine Praxis, brauchte aber keine Termine mehr für sich selbst. Eine Wiederholung des Mittels war nicht nötig.

Einige Zeit später nahm sie die Behandlung für sich selbst wieder auf. Dieses Mal war das Bild aber ein anderes. Die Patientin sprach nicht mehr davon, dass „alles in sie eindringt“ und wirkte gereift und erwachsen. Das Folgemittel war Calcium muriaticum. Es wurde gegeben, weil sich die Patientin sehr unsicher fühlte, in Bezug auf sich selbst und auf ihre Fähigkeiten als Mutter. Sie machte sich große Gedanken darüber, was andere von ihr dachten. „Ich habe mir schon immer Gedanken darüber gemacht, was andere von mir halten. Ob sie glauben, dass ich es wirklich schaffe. Aber jetzt ist es nur noch dieser eine Punkt, der mich stört. Es ist nicht mehr so, dass ich von allem überwältigt werde. Ich glaube, dass ich endlich erwachsen werde.“ Ihre Mutter konnte das, was ihre Tochter erzählte, nur bestätigen. Sie berichtete mir, dass sie ihre Tochter kaum noch im Haushalt unterstützen musste, wie sie das früher regelmäßig getan hatte.

Auch in diesem Fall hatte Vernix einen essentiellen Aspekt geheilt und den Weg für das Folgemittel geebnet, wobei es sich in diesem Fall um ein eher ‚gewöhnliches‘ Mittel handelte. Das Mittel Calcium muriaticum spricht die Beziehungsebene an, wo sich die Dinge nicht mehr um Probleme drehen, die im Mutterleib entstanden sind.

 

Fallbeispiel 2: „Zu zerbrechlich“ von Alex Leupen

Davids Mutter bringt ihren Sohn in die Sprechstunde, weil er sich nicht gut entwickelt. Vor mir steht ein zart gebauter 4-jähriger Junge, der mich mit großen Augen anschaut. Das Wort ‚zerbrechlich‘ kommt mir in den Sinn. Seit vier Wochen besucht der Junge die Vorschule und hat großen Stress. Er ist sehr schüchtern und wagt es nicht einmal, seinem Lehrer die Hand zu geben. Manchmal steht er so unter Druck, dass er mit hängenden Schultern läuft. Sobald er sein Klassenzimmer betritt, stellt er sich in eine Ecke und traut sich nicht, mit Kindern zu spielen, die er nicht kennt. Er meldet sich nie freiwillig zu Wort. Im Kindergarten war er sehr beliebt gewesen und hatte oft den Clown gespielt. Hier, in einer neuen Umgebung, ist er in sich gekehrt.

 

Ich frage die Mutter nach ihrer Schwangerschaft. Sie hatte viele Beschwerden, vor allem Schwangerschaftserbrechen und allgemein Probleme mit dem Becken. David war 11 Tage übertragen, als die Fruchtblase spontan platzte. Weil sich Mekonium im Fruchtwasser befand, wurde die Mutter sofort in ein Krankenhaus eingewiesen. Sie bekam eine Narkose und bei 8cm kam es zum Wehenstillstand. Die Mutter erzählte, sie habe „ihn aus eigener Kraft herausgedrückt“. Anschließend musste die Plazenta unter Narkose entfernt werden, die Mutter hatte außerdem einen starken Dammriss.

 

Dieser Fall lässt mich sofort an Opium denken, dennoch fühlte sich das nicht richtig an. David fühlt sich in der Schule verunsichert, ist sehr schüchtern und zieht sich in sich selbst zurück. Die Anspannung lässt ihn ganz steif werden. Ich hatte den Eindruck, dieser kleine Junge könne eine Pufferzone um ihn herum als Schutz vor dieser Reizüberflutung gut gebrauchen.

 

Verschreibung: Vernix C30, 2 Globuli pro Woche.

 

Follow-up: Letzte Woche sah ich ihn wieder, vier Wochen nach der Erstanamnese. Seine Mutter berichtet mir, dass er jetzt ein völlig anderes Kind sei. In der Schule fühle er sich wohl, er könne seinem Lehrer die Hand geben und spiele auch mit den anderen Kindern. Der Junge macht einen entspannten Eindruck und man kann durchaus sagen, dass in der Schule mittlerweile alles glatt läuft.

 

Fallbeispiel 3: „Alles geht mir auf die Nerven“ von Alex Leupen

Die 37-jährige Frau R. kommt im Oktober 2009 wegen ihrer Nervosität in die Sprechstunde. Sie ist schon längere Zeit wegen seelischer Beschwerden bei mir in Behandlung und hatte gut auf Vanadium angesprochen. Sie ist Mutter eines kleinen Kindes und führt gemeinsam mit ihrem Mann eine Firma. Sie fängt sofort an zu weinen und erzählt: „Ich bin nervlich am Ende; alles geht mir auf die Nerven“. Ihre Tochter erkrankt ständig an einer Mittelohrentzündung und sie bekommt in letzter Zeit nur wenig Schlaf. Sie hätte gern noch ein Kind, aber bislang will es mit einer zweiten Schwangerschaft nicht so recht klappen. Die Patientin fühlt sich oft depressiv. Ihre Tochter verlangt viel Aufmerksamkeit von ihr und sie hat kaum noch Zeit für das Geschäft. Ihre eigene Mutter, die gegenwärtig unter einer bipolaren Störung leidet, hatte nach der Geburt ihrer Tochter eine schwere Depression und konnte sie nicht versorgen. In ihren ersten Lebensmonaten wurde sie von ihrer Tante betreut, die in ihrem Leben eine große Rolle spielt. Die Tante ist für sie viel mehr Mutter gewesen als ihre eigene es jemals war.

 

Verschreibung: Vernix C30, 2 Globuli pro Woche: Vernix soll hier als ‚Balsam für die Seele‘ wirken. Die Patientin erweckt den Anschein, als bräuchte sie einen Schutzmantel. Das Muttersein ist eine große Herausforderung für sie, vor allem, weil sie am Lebensanfang nicht von ihrer eigenen Mutter versorgt werden konnte.

 

Follow-up: Sechs Wochen später kommt sie wieder und berichtet, dass sie sich stärker fühlt, ihre Gefühle sind stabiler geworden. Sie möchte das Mittel noch einmal verschrieben bekommen. Im März 2012 kommt sie wegen einer leichten Sinusitis, die über dem rechten Auge Schmerzen verursacht, ähnlich wie Zahnschmerzen. Emotional geht es ihr immer noch gut. Ich verschreibe ihr Lac maternum 200K, an zwei Tagen hintereinander einzunehmen. Nach der zweiten Gabe verschwinden die Symptome dauerhaft. Vor Kurzen bat die Patientin mich erneut um Unterstützung, diesmal möchte sie mit dem Rauchen aufhören. Im Großen und Ganzen fühlt sie sich stabil und ausgeglichen – körperlich und seelisch.

 

Vernix caseosa gebe ich häufig als interkurrentes Mittel, wenn das Kind oder der Erwachsene sich in einem Zustand der erhöhten Sensibilität befindet: der Patient ist hochgradig durchlässig – alles dringt ein und geht auf die Nerven. Es ist die Situation eines kleinen schutzlosen Kindes in der Krippe. Vernix hat sich in diesen Fällen als ‚Balsam für die Seel‘ bewährt – es legt einen Schutzmantel über den bedürftigen Menschen. Man kann auch an ein Kind denken, das frisch in die Schule gekommen ist und die ersten Wochen überstehen muss. Oder an eine Frau, die gerade ein Baby geboren hat, welches keine Ruhe findet und die ganze Zeit schreit.

 

Fotos:

Flickr: Fragile; Milknosugar; Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic
Flickr; Something's wrong; Adrien Leguay; Attribution-NoDerivs 2.0 Generic

 

Kategorie: Fälle

Schlüsselwörter: schutzlos, nackt, verletzlich, überempfindlich, hochsensibel, überreizt

Mittel: Vernix caseosa

 





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Manuela

vor 4 Jahren
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